»Was ist?«, fragte sie und überspielte ihre Unsicherheit mit einem Lächeln.
»Ich denke, dieser Teil der Ausstellung gefällt dir besser.«
»Wie kommst du darauf?«
»Du lächelst.«
Layna errötete. Es war ihr peinlich, dass er sie anhand von Beobachtungen so gut einschätzen konnte. Sie fühlte sich, als hätte er sie in einem intimen Moment erwischt.
»Ich fotografiere selbst sehr gerne«, erklärte sie.
»Lass mich raten: Es sind Porträts?«
»Was machst du eigentlich in deiner Freizeit? Außer mit fremden Frauen ins Museum zu gehen?« Layna versuchte, von sich abzulenken, denn sie wollte nicht über sich sprechen. Sie gab selten etwas von sich preis, unterhielt sich ungern über ihr Leben, da immer wieder die Frage nach ihren Eltern auftauchte. Und der wollte sie aus dem Weg gehen.
Mike verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und hakte nicht weiter nach. »Freizeit habe ich so gut wie gar nicht. Mein Job nimmt mich fast vollständig ein. Wenn ich nichts erledigen muss, dann ruhe ich mich einfach aus.«
»Was arbeitest du denn?«
»Darf ich dich heute Abend zum Essen einladen?«
Layna schmunzelte. Also gab es auch für Mike Dinge, über die er nicht sprach.
»Wir sind noch nicht einmal eine halbe Stunde im Museum und du fragst mich schon, ob ich mit dir ausgehe?«
»Ich dachte, ich frage früh genug, bevor du mich satthast.«
Für Layna schien es unmöglich, dass sie ihn je satthaben könnte. Sie fühlte sich in seiner Nähe wohl und verstanden, wie bei Tony. Allerdings hatte sie bei Mike auch noch das Gefühl, begehrt zu werden. Warum sollte sie davon jemals genug haben? Außerdem tat es ihrem Ego gut, dass sich jemand um sie bemühte. An ihr letztes Date konnte sie sich gar nicht mehr richtig erinnern, dabei war sie doch erst einundzwanzig Jahre alt. Es wurde also Zeit, sich auf das andere Geschlecht einzulassen. Was hatte sie schon zu verlieren? Entweder, sie verstanden sich weiterhin gut, oder sie hatten es wenigstens versucht. Dennoch ließ sie etwas zögern, sofort zuzustimmen.
»Ich werde dir die Antwort am Ende unseres Rundganges mitteilen«, sagte sie mit breitem Lächeln und ging ein paar Fotografien weiter. Als sie zurückblickte, grinste auch Mike. Ihr gefiel dieses kleine Spielchen mit ihm. Er sollte noch ein wenig zappeln. Hätte sie gleich zugestimmt, dann hätte er bestimmt gedacht, sie sei leicht zu haben.
Die beiden verweilten den gesamten Vormittag im Museum. Sie unterhielten sich über die Gemälde, Figuren, Fotos und was noch alles zu finden war. Doch Mike ließ nicht locker und wollte so vieles über Layna erfahren. Je mehr Zeit sie miteinander verbrachten, desto mehr traute sie sich, von sich zu erzählen. Sie berichtete vom Studium, Tony und ihrem Traum, eine eigene Galerie zu eröffnen. Die Frage nach ihren Eltern kam nicht auf. Das nahm ihr eine riesige Last von den Schultern. Sie wurde immer lockerer und hatte das Gefühl, Mike schon ewig zu kennen, obwohl er über sich nicht viel preisgab. Sie fragte ihn nach seiner Familie, wo er herkam und startete einen weiteren Versuch, herauszufinden, was er beruflich tat. Doch alles, was er über sich erzählte, waren Dinge wie sein Lieblingsessen, seine Lieblingsmusik oder welche Filme er gern schaute. Seine Familie und den Beruf ließ er im Dunkeln. Das machte Layna ein wenig skeptisch, aber auch neugierig. Er war geheimnisvoll und trotzdem vertraut. Ein wärmendes Feuer, an dem man sich wahrscheinlich verbrannte, wenn man ihm zu nah kam.
Als sie am Ende des Rundganges wieder in den ersten Raum traten, waren vier Stunden vergangen. Layna kam es vor, als wären sie nur ein paar Minuten im Museum gewesen, so schnell war die Zeit dahingerast.
»Weißt du jetzt, worüber du deinen Aufsatz schreiben möchtest?«, fragte Mike.
Laynas Bauch zuckte zusammen. Der Aufsatz. Den hatte sie vollkommen vergessen. Sie durchwühlte ihren Kopf nach etwas Passendem, das sie in den letzten Stunden gesehen hatte. Fest eingebrannt hatte sich jedoch nur ein Werk: der gefallene Engel. Sie drehte sich zu der Skulptur um und ging einige Schritte auf sie zu. Es war wie ein unsichtbares Band, das sie dorthin zog.
»Ach nein«, seufzte Mike und legte sich eine Hand aufs Herz. »Das kannst du mir nicht antun. Nicht das. Du kannst dich nicht für den gefallenen Engel entscheiden.«
»Warum nicht?«, fragte Layna patzig. Sie hasste es, wenn man ihre Entscheidungen nicht akzeptierte.
»Ich dachte, du würdest dir ein Werk aussuchen, das nicht so düster und leidend ist.«
»Ich finde gerade das interessant«, sagte Layna. »Außerdem hatten wir gestern den Engelsturz von Rubens in der Vorlesung. Es würde also in unsere Thematik passen.«
Mike fing plötzlich an, herzhaft zu lachen. Erstaunt sah sie ihn an, teils, weil sie ein so heftiges Lachen von ihm nicht erwartet hatte, teils, weil sie völlig hingerissen davon war.
»Ach ja, der Engelsturz. Den kenne ich«, lachte er weiter, bevor er sich beruhigte. »Entschuldige. Keines der Gemälde, die dieses Thema behandeln, kann ich ernst nehmen.«
»Du kennst dich also mit Kunst aus?«
»Nicht so gut wie du. Aber das Bild von Rubens vergleiche ich eher mit einem Comic. Eine Comicdarstellung eines Ereignisses, das so schwerwiegend und brutal war, wie kein anderes.«
»Du glaubst daran, dass es wirklich passiert ist?«
»Tust du es?«
Layna zuckte mit den Schultern. Das Thema »Gott und der Himmel« hatte sie ausgeblendet. Darüber nachzudenken hätte bedeutet, sich Gedanken zu machen, was mit ihren Eltern nach dem Tod geschehen sein könnte. Sie war sich selbst nicht sicher, ob sie an etwas glaubte oder nicht. Schweigend zog sie ihre Kamera aus der Tasche und machte ein paar Fotos von der Engelsskulptur, damit sie diese im Aufsatz verwenden konnte. Sie nahm sich vor, ein Buch über gefallene Engel in der Bibliothek auszuleihen. Darin würde sie bestimmt einige Informationen finden, die nützlich wären. Zuerst musste sie jedoch wissen, was genau gefallene Engel eigentlich waren.
Nachdem sie hinausgegangen waren, blickte Layna noch einmal zurück zum Museum. Den ersten Schritt in Richtung eines neuen Lebensabschnittes hatte sie getan. Sie war stolz auf sich, aber auch froh, jemanden an ihrer Seite gehabt zu haben, der ihr beigestanden hatte.
»Du schuldest mir noch eine Antwort.« Mike legte sein charmantestes Lächeln auf.
Dies war der Zeitpunkt, an dem Layna das Thema nicht weiter hinauszögern konnte. Noch nie hatte sie sich dermaßen schnell mit einem Mann vertraut gefühlt wie mit ihm. Das machte ihr ein wenig Angst, aber wollte sie den Blick nicht nach vorne richten? Auf ein neues Leben? Vielleicht gehörte Mike dazu. Sie war neugierig auf ihn und fühlte sich auf eine seltsame Art zu ihm hingezogen.
»Wann soll ich wohin kommen?«, fragte sie.
Mike grinste breit. »Ich hole dich natürlich ab. Um 20 Uhr.«
Laynas Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Er würde sie abholen. Bestimmt mit einem Auto, in das sie nicht einsteigen konnte. Sollte sie ihm von ihren Ängsten erzählen? So etwas Privates gleich am ersten Tag preiszugeben, kam ihr falsch vor. Doch wie sollte sie sich herausreden?
»Ich möchte dir keine Umstände machen. Wir können uns doch vor einem Restaurant treffen. Das macht mir nichts aus.«
»Willst du nicht, dass ich weiß, wo du wohnst?«, fragte Mike skeptisch.
Layna holte tief Luft. Eine gute Lüge fiel ihr nicht ein. Früher oder später würde sie ihm sowieso die Wahrheit sagen müssen. Sie schaute verlegen zu Boden. »Ich habe Angst, in einem Auto zu fahren. Genauso steige ich nicht in die Bahn oder den Bus. Für mich kommt nur das Rad infrage oder ich gehe zu Fuß.«
Die Wahrheit kostete einiges an Kraft, dennoch war sie froh, ihn nicht angelogen zu haben. Sie wappnete sich auf die Frage, warum sie es nicht tat, aber Mike schien den Grund nicht wissen zu wollen.
Читать дальше