»Mist!« Sie drehte sich erneut um und stieg die Treppe wieder hinauf, bis sie kurz vorm Ende ein weiteres Mal stehen blieb. Aber vielleicht war eine Pause gar nicht das Schlechteste für sie. Vielleicht musste sie all das erst richtig verarbeiten. Vielleicht sollte sie eine Therapie machen, wie es die Ärzte ihr geraten hatten.
»Scheiße!«, schrie Layna. Als sie sich umdrehte, um die Treppe abermals hinabzugehen, rempelte sie jemanden an. Sie verlor ihr Gleichgewicht, doch der Mann fing sie auf, bevor sie die Stufen hinunterpurzelte.
Erschrocken starrte sie in das Gesicht des Mannes, den sie im Café beobachtet hatte. Sie war sich unsicher, was sie verwirrender finden sollte: Die Tatsache, dass sie ihn überhaupt noch einmal traf, oder dass sie ausgerechnet ihn umgerannt hatte.
Er half Layna, sich auf die Treppe zu setzen. »Hast du dir wehgetan?«
Er sah also nicht nur verdammt gut aus, er war auch noch höflich und fürsorglich.
Sie schüttelte den Kopf.
»Wolltest du auch gerade in die Ausstellung gehen?«, fragte er mit einer so sanften Stimme, dass Layna schwummrig wurde.
Sie nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf.
Der Fremde lächelte.
Gott, dachte Layna, kann er bitte aufhören, so himmlisch zu lächeln? Jetzt, da er vor ihr stand, bemerkte sie erst, wie groß er war. Vielleicht lag es daran, dass sie saß, aber er überragte sie, obwohl er einige Stufen unter ihr stand. Er hatte einen athletischen Körperbau und bewegte sich für diese Größe mehr als elegant.
Als er sich neben sie setzte, sprang ihr Herz fast aus der Brust. Sie hatte anscheinend in den letzten Jahren wirklich zu wenig Männerkontakt gehabt. Und Tony zählte nicht.
»Mein Name ist übrigens Mike.« Er hielt ihr die Hand zur Begrüßung hin.
»Layna«, flüsterte sie und schüttelte vorsichtig seine Hand. Sie fühlte sich weich an, und dennoch war der Händedruck kräftig.
»Und? Bist du hier, um ins Museum zu gehen, oder um die Treppen auf und ab zu laufen?«, fragte Mike lächelnd.
Layna lachte kurz bei dem Gedanken, wie albern es ausgesehen haben musste, dass sie die Treppe mehrfach hoch- und wieder heruntergelaufen war.
»Ich muss eigentlich hinein, aber irgendwie …«, flüsterte sie und verstummte dann. Einem fremden Mann von ihren Problemen zu erzählen, kam ihr doch sehr dumm vor.
Mike runzelte die Stirn. »Du musst? Warum musst du rein?«
»Ich muss einen Aufsatz über eines der Werke für das Studium schreiben.«
»Wenn du willst, können wir zusammen hineingehen.«
Das überforderte Layna vollständig. Auch wenn er es mit dem Angebot gut meinte, so war das ein weiterer Punkt, der sie unter Druck setzte, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sie wollte Mike nicht vor den Kopf stoßen und seine Einladung abschlagen, aber in ihrem Inneren wehrte sich immer noch alles dagegen, das Museum zu betreten. Außerdem hätte sie sich an seiner Seite bestimmt nicht auf die Kunstwerke konzentrieren können. Wie immer, wenn Layna sich in die Enge gedrängt fühlte, ging sie zum Angriff über.
»Sorry. Ich habe Besseres zu tun, als mich mit dir im Museum herumzutreiben. Danke, dass du mich aufgefangen hast. Ich muss jetzt los.«
Sie sprang auf, ohne Mike anzuschauen, und rannte die Treppen hinunter zu ihrem Fahrrad. Bevor sie losging, blickte sie noch zu ihm zurück, aber Mike war wie vom Erdboden verschwunden. Layna schaute sich um, fand ihn jedoch nicht. Wahrscheinlich war er bereits hineingegangen. Warum sollte er auch dort sitzen bleiben und ihr nachschauen, nachdem sie ihm eine ziemlich unhöfliche Abfuhr erteilt hatte?
Auf dem Rückweg zur WG hätte sie sich tausendfach ohrfeigen können. Ständig fuhr sie ein paar Meter zurück, um doch ins Museum zu gehen und sich bei Mike zu entschuldigen, aber sie drehte jedes Mal wieder um. Da lernte sie schon einen Mann wie ihn kennen und präsentierte gleich ihre unausstehliche Seite. Ergriff sogar die Flucht. Warum legte sie sich immer wieder selbst Steine in den Weg? Sie hätte einfach mit ihm hineingehen können, sich nett unterhalten, nebenbei Stichpunkte für ihren Aufsatz notiert und wäre glücklich und zufrieden nach Hause gegangen. Aber nicht Layna. Nein, sie musste es sich selbst verderben. Von Selbstvorwürfen geplagt, knallte sie ihr Rad in den Hausflur, zeigte der alten Dame, die sich darüber aufregte, den Mittelfinger und stieg in den Fahrstuhl.
Was war nur mit ihr los? Sie war schon häufiger ausfallend geworden, aber in den letzten Jahren war es immer schlimmer geworden. Wie hielten Tony und Vicci es nur mit ihr aus? Neulich hatte sie Vicci die Hölle heiß gemacht und eine Pfanne nach ihr geworfen, weil sie die letzte Milch getrunken hatte. Zum Glück hatte sie nur den Türrahmen getroffen und musste eine neue Pfanne kaufen, aber allmählich bekam sie Angst vor sich selbst.
Der Fahrstuhl hielt im 78. Stock. Betrübt schlich Layna den langen Flur entlang, öffnete die Wohnungstür und trat in die kleine WG. Es war niemand da. Vicci würde erst gegen Abend nach Hause kommen und Tony irgendwann in der Nacht, wenn es keine Planeten mehr zu entdecken gab.
Sie glitt an der Tür hinunter, zog ihre Beine an und schaute durch die Fensterfront, die sich über das gesamte Wohnzimmer und die nebenliegende Küche erstreckte. Draußen schien die Mittagssonne. Eigentlich hätte Layna ein wenig aufräumen können. Auf dem roten Sofa und dem Fußboden lagen noch Chipskrümel vom vorigen Filmabend. Und die weißen Küchenschränke sahen aus, als wäre jemand abgeschlachtet worden. Überall an den Schränken klebten Spritzer von der Tomatensoße, die Tony zu den Spaghetti gekocht hatte. Aber sie konnte sich nicht aufraffen, etwas Sinnvolles zu tun. Auf allen Vieren kroch sie den Flur hinunter, der das Wohnzimmer mit den privaten Räumen und dem Bad verband. An der letzten Tür auf der linken Seite zog sie sich an der Türklinke hinauf, stolperte in ihr Zimmer und warf sich auf das Bett. Ihre mentale Schwäche übertrug sich auf ihren Körper. Sie fühlte sich schwer wie ein Stein.
An der gesamten Fensterfront der Wohnung gab es einen langen Balkon, der über die drei Zimmer der Bewohner erreichbar war. Mit wackeligen Beinen schlich sie zur Balkontür und trat hinaus. Layna löste ihren Zopf und der warme Wind des Spätsommers spielte mit ihren Haarsträhnen. Sie atmete tief ein, schloss die Augen, streckte ihre Arme weit aus und spürte den Luftstrom an den Händen. Sie stellte sich vor, wie es wäre, einfach von diesem Balkon zu springen und durch die Luft zu schweben. Ihre Arme suchten nach Halt, jedoch vergebens. Wie sehr sehnte sie sich nach jemandem, der ihren Fall auffing. Was, wenn sie diese Person vor dem Museum verjagt hatte und niemals wiedersehen würde? Wütend auf sich selbst ging sie zurück in ihr Zimmer und schaltete den Computer an. Auf der gläsernen Scheibe an der Wand erschien das Hintergrundbild des Computersystems. Sie gestikulierte mit der Hand in der Luft, bis die Ordner geöffnet wurden, die ihre Kamera automatisch in der Cloud speicherte. Sie öffnete das erste Bild, das sie am Morgen geschossen hatte. Mit einer Wischbewegung zeigte sich das nächste Foto. Das frühe Aufstehen hatte sich wirklich gelohnt. Die Farben, die Gesichter, die Umgebung – alles passte perfekt zusammen, als wären die Menschen für diese Welt geschaffen worden und die Welt für sie. Aber warum fühlte Layna sich, als sei sie nur Zuschauer und kein Teil davon?
Nachdem sie die Fotos sortiert hatte, machte sie sich doch an den Wohnungsputz. Sie schrubbte die Tomatensoße von den Schränken, saugte die Krümel auf und wusch den Berg Schmutzwäsche, über den sie mittlerweile klettern mussten, um in die Dusche zu gelangen. Als die Wohnung glänzte und die Wäsche sauber war, dämmerte es draußen bereits.
Wieder ein verschenkter Tag, dachte Layna. Sie hatte Aufgaben bekommen und sie verdrängt, sich mit anderen Dingen abgelenkt. Ihr wurde klar, dass sie das ändern musste. Sie nahm sich fest vor, am nächsten Tag, der vorlesungsfrei war, in das Museum zu gehen. Gleich nach dem Aufstehen würde sie sich auf den Weg machen.
Читать дальше