Er dachte kurz nach und lächelte. »Ich hole dich um 20 Uhr ab. Ich verspreche dir: kein Auto, kein Bus.«
Verwundert gab Layna ihm schließlich ihre Adresse. Wollte er etwa zu Fuß mit ihr bis in die Stadt gehen? Das würde ein langer Spaziergang werden. Mit dem Rad war sie ja schon eine halbe Stunde unterwegs. Sie war sehr gespannt darauf, was er sich ausgedacht hatte.
Zum Abschied umarmte Mike sie. Layna atmete den würzigen Geruch seines Parfüms ein. Sie fühlte sich sicher und geborgen in seinen starken Armen und hoffte, er würde sie noch länger halten. Doch schließlich gab er sie frei und wünschte ihr mit einem bezaubernden Lächeln einen schönen Tag. Den würde sie bestimmt haben. Und der Abend würde gewiss noch schöner werden.
Auf dem Weg nach Hause ließ Layna den Vormittag Revue passieren. Sie war froh, dass sie sich dazu durchgerungen hatte, in das Museum zu gehen. Sie hatte nicht nur ein passendes Werk für den Aufsatz gefunden, sondern auch Mike getroffen und mit ihm Zeit verbracht. Zeit, die viel zu rasch vergangen war. Aber in ein paar Stunden würde sie ihn wiedersehen. Die Vorfreude wuchs, je weiter sie radelte.
Zu Hause angekommen, stürmte sie in die WG, schmiss die Tasche in den Flur und rannte in ihr Zimmer. Vicci, die in einem rosa Jogginganzug auf dem Sofa saß, schaute ihr verdutzt hinterher.
»Wer ist denn hinter dir her?«
»Ich habe eine Verabredung, aber nichts zum Anziehen!«
»Du hast eine Verabredung?«, quietschte Vicci und lief in Laynas Zimmer. Diese war schon dabei, den gesamten Inhalt ihres Kleiderschrankes auf dem Bett zu verteilen. »Mit wem? Kenne ich ihn?«
»Er saß gestern bei dir im Café und heute war ich mit ihm im Museum.«
»Du warst im Museum?«, fragte Vicci erstaunt und legte die zerstreuten Kleider ordentlich zusammen. Sie wusste, dass Layna regelrecht Panik hatte, dort hineinzugehen. »Das muss ja ein Traummann sein, wenn du seinetwegen ins Museum gegangen bist.«
Layna schmiss sich auf das Bett zwischen die Klamotten und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Traummann würde ich nicht gerade sagen. Aber er sieht wirklich verdammt gut aus. Er ist richtig höflich zu mir und bemüht sich um mich. Bei ihm habe ich das Gefühl, als würden wir uns schon ewig kennen. Hast du ihn gestern nicht gesehen?«
Vicci lachte. »Du ahnst gar nicht, wie viele gut aussehende Männer ich täglich im Café sitzen habe. Beschreibe ihn doch mal.«
»Also, er ist groß, sportlich, hat schulterlange blonde Haare, braune Augen und ein wahnsinnig tolles Lächeln. Der muss dir aufgefallen sein.«
Vicci überlegte, schüttelte dann aber den Kopf. »An einen Mann mit langen blonden Haaren kann ich mich nicht erinnern. Aber egal. Was genau willst du anziehen?«
»Wenn ich das wüsste«, stöhnte Layna. »Ich will mich nicht aufbrezeln. Das passt nicht zu mir. Und sollte er mich heute Abend wirklich zu Fuß abholen, werde ich bestimmt nicht in High Heels herumrennen.«
Vicci durchstöberte den Berg an Kleidung und zog eine weiße Stoffhose sowie ein dunkelgrünes Top heraus, das auf einer Seite schulterfrei war.
»Lässige Hose, sexy Oberteil. Sollte er dich nicht ins Fünf-Sterne-Restaurant einladen, passt es. Oder ist er reich?«
Layna zuckte mit den Schultern. Sie wusste ja noch nicht einmal, womit er sein Geld verdiente.
»Ist Tony da?« Sie wollte ihrem besten Freund natürlich ebenfalls von ihrem Date erzählen. Seiner Meinung nach war sie schon viel zu lange alleine, was sie immer nur belächelte, denn auch er war ewig nicht mehr in einer festen Beziehung gewesen. Die letzte Freundin hatte er im Abschlussjahr an der Highschool gehabt. Nachdem sie nach New York gezogen war, um Journalismus zu studieren, hatten sie sich getrennt. Eine Fernbeziehung kam für sie nicht in Frage. Den One-Night-Stand, den er an der Uni hatte, zählte Layna nicht als Beziehung.
Vicci antwortete mit einem langen Gähnen. »Der schläft noch.«
»Es ist Mittag.«
»Er kam auch erst gegen fünf Uhr heute Morgen nach Hause.«
»Der hat lange genug gepennt, finde ich.«
Layna öffnete leise die Tür zu Tonys Zimmer und schlich im Dunkeln zum Bett. Vorsichtig hob sie die Decke an und kuschelte sich an ihn. Sie hatten schon oft zusammen in einem Bett geschlafen. Obwohl sie manchmal nur mit Unterwäsche bekleidet waren, kam keiner von beiden in Versuchung, mehr zu wollen. Auch jetzt lag Tony nur in Shorts neben ihr. Als er Layna bemerkte, legte er einen Arm um sie und drückte sie an sich.
»Hey, Lay«, flüsterte er halbwach.
»Hey, Tony.« Einen winzigen Moment lauschte sie noch seinen Atemzügen, dann konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. »Ich habe jemanden kennengelernt.«
»Wen?«, nuschelte er wieder.
»Den Typen aus dem Café.«
Ruckartig richtete sich Tony auf und schaltete das Licht an. »Das ist jetzt nicht wahr! Ehrlich? Wie denn?«
Layna musste lachen. Seine Haare standen wild in alle Himmelsrichtungen ab. Er selbst war noch nicht richtig wach, während sein Hirn schon auf Hochtouren arbeitete. Sie erzählte ihm vom ersten Treffen, dem zweiten Versuch, ins Museum zu gehen und wie sie Mike dort getroffen hatte. Tony lauschte währenddessen interessiert ihren Worten.
Nachdem sie den Bericht beendet hatte, kletterte er über sie hinweg aus dem Bett und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich freue mich für dich. Aber denk daran: Du musst ihn mir vorstellen. Kein Kerl kommt an dich heran, bevor er nicht an mir vorbei ist.«
Layna schätzte es, dass er sie beschützen wollte, obwohl Tony der Erste war, der den Rückzug antrat, wenn Probleme in Aussicht waren. Sie war es, die ihn aus brenzligen Situationen herausboxen musste, während er zur Stelle war, um ihre seelischen Wunden zu verarzten.
Sie beobachtete, wie er zu seinem Schrank ging, sich ein Handtuch nahm und im Bad verschwand. Eigentlich ist er schon ziemlich sexy, dachte sie. Nicht so muskulös wie Mike, aber dennoch lecker anzusehen. Kopfschüttelnd schob Layna die Gedanken beiseite. Nie im Leben könnte sie mit ihm etwas anfangen, mit ihrem auserwählten Bruder. Diese Vorstellung war mehr als lächerlich.
Schließlich stand sie auf und zog die Vorhänge zur Seite. Im Augenwinkel sah sie eine schwarze Feder, die auf dem Balkon lag. Layna öffnete die Tür, trat hinaus und hob sie auf. Sie war länger als ihre Hand, rabenschwarz und schimmerte im Sonnenlicht. Laynas Finger glitten vorsichtig über die samtige Oberfläche.
»Lay?« Vicci lehnte am Türrahmen und beobachtete sie. »Was machst du da?«
Layna hob als Antwort die Feder hoch.
Vicci runzelte die Stirn. »Das ist eine Feder.«
»Ich weiß, dass das eine Feder ist«, konterte Layna trotzig und ging über den Balkon zurück in ihr eigenes Zimmer. »Aber sie ist wunderschön.« Sie steckte die Feder an ihrem Bettrahmen fest und strich ein letztes Mal darüber.
»Du holst dir noch irgendwelche Krabbeltiere hier rein, die da drinnen sitzen«, stichelte Vicci. Doch als Layna ihr einen bissigen Blick zuwarf, hielt sie lieber den Mund. Sich mit ihrer Freundin zu streiten, konnte sich schnell zuspitzen. Sie erinnerte sich ungern an die Beinahebegegnung mit der Pfanne.
»Komm, ich mach dir die Haare für heute Abend, bevor ich los muss.«
Das Friedensangebot nahm Layna dankend an. Mit den langen Locken kam sie allein kaum zurecht. Vicci flocht Zöpfe hinein, sodass die Haare nicht mehr ins Gesicht fielen. Nachdem Tony das Werk abgenommen und für gut befunden hatte, ging Vicci zu ihrer Schicht ins Café.
Layna verbrachte den Nachmittag mit Tony. Sie quatschten über den Astronomiekurs, schauten sich die neuesten Fotos von ihr an und machten Waffeln nach dem Rezept von Tonys Mutter.
Tony bemühte sich, Layna abzulenken, die sichtlich nervös war. Auch wenn ihm etwas mulmig war, dass sie ein Date hatte, so freute er sich für sie. Freundschaften halten länger als Beziehungen. Das hatten sie immer wieder gesagt. Egal mit wem Layna zusammen sein würde, Tony wäre an ihrer Seite, um sie zu unterstützen und aufzufangen, wenn es ihr schlecht ging. Nach dem Tod ihrer Eltern fühlte er sich verantwortlich für sie. Außer ihn hatte sie niemanden mehr und er würde alles in seiner Macht stehende tun, damit es ihr gut ging.
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