Eigentlich hatte ich mit einem Kleinwagen gerechnet, da Lisa Angst vor großen Autos hatte. »Klein und praktisch müssen sie sein. In jede Parklücke müssen sie passen. Größere Autos sind mir zu umständlich«, hatte sie immer gesagt, weshalb sie einen kleinen Smart fuhr.
Jetzt standen wir vor einem großen, dunkelgrünen Geländewagen. Es war ein Jeep. Nicht der Neueste, was mich wunderte, denn Autovermietungen boten für gewöhnlich nur gepflegte und neuere Modelle an. Dieser Jeep hatte bereits ein paar Beulen und Kratzer. Er war zwar sauber, aber ich befürchtete, dass er uns auf halber Strecke auseinander fallen würde.
»Das ist unser Wagen?« Dieses Mal runzelte ich die Stirn. »Gibt es in den Rockies keine normalen Straßen? Schafft der das überhaupt noch?«
Lisa war schon dabei, die Koffer zu verladen. »Ja, das ist unser Auto. Mit einem Kleinwagen würden wir nicht weit genug kommen. Zu der Hütte führt nur ein Feldweg.«
Es würde also ein Abenteuerurlaub werden. Falls wir überhaupt an der Hütte ankämen. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel und kletterte auf den Beifahrersitz. Diese Geländewagen waren einfach zu groß für mich – oder ich zu klein für sie.
Lisa schwang sich mit Leichtigkeit hinter das Lenkrad und steckte den Schlüssel in das Zündschloss. Sie atmete noch einmal ganz tief ein und sah mich an. Sie wirkte immer noch besorgt. Traute sie dem Wagen doch nicht? »Bereit für eine Reise, die dein Leben verändern wird?«
Ich ignorierte den ernsten Unterton. »So was von bereit. Auf, auf ins Abenteuer!« Ich setzte mich kerzengerade hin und legte meine Hand zum Salut an die Stirn, mit der anderen Hand zeigte ich geradeaus.
Lisa stöhnte und drehte den Schlüssel um. Mit einem lauten Dröhnen und Schütteln sprang der Motor sofort an. Immerhin hatte er keine Startschwierigkeiten.
»Brauchst du keine Karte oder ein Navi?«, fragte ich Lisa, als wir vom Parkplatz aus auf die Straße bogen.
»Ich finde den Weg auch im Schlaf«, antwortete Lisa.
»Wie lange fahren wir?«
»Es wird dunkel sein, wenn wir ankommen.«
»Bist du gar nicht müde? Wollen wir nicht lieber einen Zwischenstopp einlegen, damit du dich ausruhen und schlafen kannst?« Ich war besorgt, weil Lisa den gesamten Weg alleine fahren wollte. Nach dem langen Flug war sie bestimmt auch erschöpft.
»Nein. Je eher wir da sind, desto besser.« Lisa starrte auf die Straße. Ich vermisste meine lustige und plappernde Freundin. Sie war anscheinend in Deutschland geblieben. Neben mir saß eine schweigende Frau, die zwar aussah wie Lisa, aber mir dennoch fremd war.
Wir fuhren eine breite Straße entlang. Noch war das Land ziemlich flach und von Feldern bedeckt, aber schon bald wurde es hügeliger und wir durchfuhren die ersten Wälder, deren hohe Bäume mich faszinierten. Ich kurbelte das Fenster herunter und lehnte mich hinaus. Die Luft war sauberer als in Calgary und auch frischer. Alles duftete nach Wald. Ich schloss die Augen, atmete tief ein und genoss diesen Duft. Nasses Laub, Erde, Tannenzapfen, Nadelbäume. Hier roch alles viel intensiver als zu Hause. Oder nahm ich es nur intensiver wahr, weil alles neu war?
Als es mich fröstelte, kurbelte ich das Fenster wieder hoch. Die schneebedeckten Berge kamen immer näher und wir fuhren durch ihre Täler. An einer winzig kleinen Hütte bog Lisa von der Straße ab und parkte das Auto neben dem Haus. Es war ein kleiner Supermarkt in der Größe eines Tante-Emma-Ladens. Neben der Hütte befand sich eine alte Tanksäule.
Ich wunderte mich, warum wir hier Halt machten. »Ist der Wagen nicht vollgetankt gewesen?«
»Ja, das war er. Aber ich brauche einen Kaffee und du brauchst etwas zu essen. Das hier ist für uns die letzte Möglichkeit zu tanken, deshalb werde ich noch mal volltanken müssen und die beiden Kanister von hinten auffüllen. Man weiß ja nie.«
Kaffee und Essen. Das waren für mich zwei gute Argumente für einen kleinen Stopp. Es war fast Abend und mein Magen knurrte mittlerweile recht stark. Ich kletterte aus dem Wagen und dehnte mich. Meine Knochen knackten, aber es tat gut, mich zu bewegen.
Als ich den Kopf in den Nacken legte, fiel mir wieder ein Falke auf, der über uns flog. Anscheinend gab es sehr viele Falken in Kanada.
Mir wurde kalt, da die untergehende Sonne durch die hohen Bäume verdeckt wurde. Ich zog meine dicke Jacke an und stiefelte in Richtung Hütte, während Lisa sich den Zapfhahn schnappte und den Wagen betankte.
Unter dem kleinen Vordach lag eine schmale Veranda, auf der ein runder hölzerner Tisch und zwei Stühle neben dem Eingang standen.
Ein Mann lehnte an der Hauswand und rauchte seine Pfeife. Sein Holzfällerhemd mit roten Karos war genauso verwaschen wie die braune Jacke aus Schaffell, die er trug. Seine Jeans hatte mindestens genau so viele Jahre auf dem Buckel. Durch seinen weißen Vollbart konnte ich sein Alter schlecht einschätzen, da ich nicht viel vom Gesicht erkennen konnte, aber die Falten an seinen Augen und seine grauen schulterlangen Haare zeigten, dass er nicht mehr der Jüngste war.
Als ich eintrat, begrüßte er mich mit einem Lächeln. Es war eine urige kleine Hütte, in der winzige Holzregale mit Nahrungsmitteln standen. Hinter einer kleinen Theke, natürlich auch aus Holz, stand eine kleine Kühlung mit Getränkeflaschen und belegten Bagels sowie auch eine Kaffeemaschine.
Ich schlich langsam durch die Regalreihen. Lisa folgte mir, nachdem der Tank und die Kanister gefüllt waren, und schüttelte entweder den Kopf, oder nickte zustimmend, wenn ich nach etwas in den Regalen greifen wollte. Bei den Chips schnappte ich nach einer Tüte Lay’s. Die wollte ich schon immer einmal probieren. Das heftige Nicken von Lisa zeigte, dass sie damit einverstanden war. Sie nahm gleich noch eine weitere Tüte mit.
Der Mann kam ohne seine Pfeife in den Laden und beobachtete unser Treiben. Nachdem wir den kleinen Einkaufskorb gefüllt hatten, gingen wir zur Kasse, um zu bezahlen. Lisa bestellte noch vier belegte Bagel, zwei Flaschen Coke und zwei Kaffee mit Milch und Zucker.
Der Mann antwortete auf Englisch mit einem kanadischen Akzent. Daran musste ich mich erst gewöhnen, aber ich verstand es zu meiner Überraschung sehr gut.
Er goss den Kaffee in Plastikbecher und zeigte auf einen kleinen Tisch, auf dem Zucker und Milchtüten standen. Während wir unseren Kaffee fertig machten, packte er unsere Einkäufe in braune Papiertüten und wünschte uns eine gute Weiterfahrt. Danach ging er nach draußen, um seine Pfeife weiter zu rauchen. Diese Ruhe, die der Mann ausstrahlte, faszinierte mich. Dass hier überhaupt so viele Leute vorbei kamen, dass sich der Laden rentierte. Wir waren seit Stunden unterwegs und das hier war das erste Haus, das wir zu Gesicht bekamen.
Wir setzten uns in den Jeep und ich nippte an meinem Kaffee. Er war sehr stark, aber er tat gut. Lisa reichte mir einen Bagel mit Lachs. Als ich hinein biss erlebten meine Geschmacksnerven eine völlig neue Erfahrung. Das war das Leckerste, das ich seit Langem gegessen hatte.
»Frischer kanadischer Lachs. Schmeckt besser als der Fisch, den du aus der Tiefkühlung kennst, oder?« Lisa trank in großen Schlucken ihren Kaffee aus. So etwas Heißes hätte ich nicht dermaßen schnell trinken können.
»Tausend Mal besser«, murmelte ich kauend und schlemmte weiter meinen Bagel. Ich konnte mich nicht zurückhalten und futterte gleich meinen Zweiten hinterher.
Als es dunkler wurde, wurden auch die Wälder immer unheimlicher. Ich sah nur noch die erste Baumreihe im Lichtkegel unserer Scheinwerfer. Der Rest des Waldes lag in tiefem Schwarz und die Dunkelheit brachte meine Müdigkeit zurück. Lisa schaute immer noch wie gebannt auf die Straße. Ab und zu blickte sie nach rechts und links an den Straßenrand, als habe sie etwas zwischen den Bäumen gesehen. Bestimmt gab es hier auch Wild, das sich auf den Straßen tummelte. Auf einen Wildunfall hatte ich jedoch keine Lust.
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