Ich ging zurück in die Küche und setzte mich an den Tisch. Jan schob mir einen großen Teller Suppe vor die Nase und stellte mir eine Dose Coke hin.
Der Eintopf schmeckte wirklich gut. Er erinnerte mich an die Suppen, die meine Oma für mich gemacht hatte. Sie schmeckten viel besser als Dosensuppen oder die, die meine Mutter kochte. Das hier war eine deftige Mahlzeit und genau das brauchte ich jetzt, auch wenn ich vor meinem geistigen Auge sah, wie sich die Knöpfe meines Brautkleides spannten.
Während des Essens schwiegen wir. Es war ab und zu ein »Mh« oder »lecker« zu hören, wobei sich Jan weiterhin selbst lobte.
Nachdem wir fertig gegessen hatten, wollte ich meinen Teller abspülen.
»Nein, nein, lass das! Stell ihn einfach in die Spüle! Ich mache das morgen früh! Bitte, heute Abend nicht mehr«, sagte Jan und nahm mir den Teller aus der Hand, um ihn in das Waschbecken zu stellen.
»Wie macht ihr das mit dem Abwasser? Wenn ihr nicht mal am Stromnetz angeschlossen seid, dann habt ihr sicher auch keine Kanalisation«, fragte ich.
»Schlaues Kind«, witzelte Jan. »Wir haben unterirdische Tanks, die jede Woche abgepumpt werden. Es kommen zwei Geländewagen mit je einem Tank. Einer für das Wasser aus den Duschen und den Waschbecken, der andere für den Rest.«
»Wäre es nicht einfacher, näher an einer Stadt zu wohnen, wo man euch an das Versorgungssystem anschließen könnte?« Dieses Thema ließ mir keine Ruhe. Warum machten sie es sich so umständlich? So weit weg von der Zivilisation. Kein Internet, Strom nur von Generatoren und das Abwasser wurde abgepumpt.
»Wir könnten auch alle in den Wald machen und uns im Bach baden, aber so ist es doch angenehmer.« Jan nahm mir meine Fragen zum Glück nicht übel.
»Wie kauft ihr denn ein? Wo ist der nächste Supermarkt? Oder ein Arzt? Was ist, wenn jemand krank wird?«
Jan setzte sich zurück an den Tisch und öffnete sich eine zweite Coke, die er mit ein paar großen Zügen leerte. »Bist kaum angekommen und willst schon alles wissen. Das gefällt mir. Einiges bauen wir selbst an. Wir haben einen Gemüsegarten, Obstbäume und auch Ziegen, Schweine, Hühner und ein paar Kühe. Alles andere kaufen wir auf Vorrat ein. Der nächste größere Ort ist Clearwater. Bis dahin fahren wir knapp drei Stunden. Wir fahren mit mehreren Wagen los und kaufen für alle hier im Dorf ein. Deshalb haben wir auch große Tiefkühlschränke«, Jan zeigte auf den großen silbernen Kasten in der Küche. »Das, was wir einkaufen, muss ein paar Wochen reichen. Wenn jemand krank wird, holen wir uns Hilfe in der Natur. Und für den allergrößten Notfall haben wir einen Hubschrauber.«
Ich schluckte. »Ihr habt einen Hubschrauber?«
Jan nickte, als sei es das Normalste auf der Welt, wenn im Garten ein Helikopter stand. »Hinter dem Dorf gibt es eine Lichtung, die wir als Landeplatz benutzen.«
»Wer bezahlt das alles? Wie verdient ihr euer Geld? Oder übernimmst du alle Kosten?«
»Ich unterstütze das Dorf, wo ich kann und übernehme die größeren Anschaffungen. Nicht jeder lebt für immer hier. Manche sind für ein paar Monate da, andere nur für ein paar Wochen. In der Zwischenzeit gehen sie einer Arbeit nach.«
»Das muss aber eine sehr gut bezahlte Arbeit sein, um hier monatelang Urlaub machen zu können.«
Langsam kam mein Gefühl zurück, dass hier etwas schief lief, dass all das nicht das war, für das es von Lisa und Jan verkauft wurde.
Ich traute mich nicht, weiter nachzufragen, aus Angst, etwas zu erfahren, das ich nicht wissen wollte. Vielleicht waren es ja doch Sektenmitglieder, die auf diese Weise neue Mitglieder warben: Einfach das Flugticket verschenken und hier festhalten und die, die angeblich wieder in die Stadt gingen, wurden als Opfer dargebracht.
Mir fröstelte es bei dem Gedanken und ich bekam eine Gänsehaut. Ich wünschte, ich wäre zu Hause bei Thomas. »Ich muss zu Hause anrufen, dass ich gut angekommen bin«, sagte ich und suchte in meiner Tasche nach meinem Handy.
»Warte.« Jan stand auf und holte aus dem Sideboard, das unter dem Fernseher stand, ein riesiges Mobiltelefon. »Du wirst hier keinen Empfang haben. Schon vergessen? Satellitentelefon.« Er zwinkerte mir zu und reichte mir das Telefon.
Ich wählte die Handynummer von Thomas, die ich auswendig konnte, und ging hinaus. Teils, weil ich ungestört mit ihm reden wollte, teils, weil ich dachte, ich hätte draußen besseren Empfang.
Nach einiger Zeit ging nur die Mailbox ran. Ich hasste es, da drauf sprechen zu müssen, aber da es in Deutschland Mittagszeit sein musste, war er sicher beschäftigt und konnte nicht ans Telefon gehen.
»Sie sind verbunden mit dem Anschluss von Thomas Lehmann. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Piepton.«
»Hey mein Schatz, ich bin’s. Wollte dir nur kurz sagen, dass ich gut angekommen bin. Hier ist alles anders als erwartet und ich wünschte, ich wäre wieder bei dir. Internet gibt es nicht, auch keinen Handyempfang. Du kannst mich also nicht erreichen. Ich melde mich morgen noch mal bei dir. Ich liebe dich!«
Ich legte auf und blieb noch einen Moment draußen stehen. Es war bitterkalt, aber die frische Luft tat mir gut. Das Dorf lag wie ausgestorben vor mir. Keine Menschenseele lief draußen herum und auch in den Hütten brannte kaum Licht.
Zwischen den Häusern auf der gegenüberliegenden Seite führten mehrere Wege in den Wald. Zwischen den Bäumen konnte ich in der Ferne ein Licht erkennen. Stand dort noch ein Haus? Ich kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Nein. Das Licht flackerte. Plötzlich hörte ich Stimmen. Musik drang ebenfalls durch die Bäume zu mir. Sie kam nicht aus Lautsprechern. Es waren Trommeln, wie ich sie aus dem Fernsehen von alten Stämmen in Afrika kannte. Eine Gitarre konnte ich ebenfalls hören. Zu diesem exotischen Rhythmus wurde gesungen.
Da es mir vor dem Haus langsam zu kalt und zu unheimlich wurde, ging ich wieder hinein. »Da draußen steigt eine Party«, sagte ich und gab Jan das Telefon zurück. »Sind etwa alle aus dem Dorf dort?«
Jan nickte.
»Warum bist du nicht da?«
»Weil ich auf euch gewartet habe«, er lachte. »Ich muss doch meine Gäste willkommen heißen.«
»Und deine Schwester ins Bett bringen«, gähnte Lisa.
»Das ist eine gute Idee.« Ich musste mitgähnen. »Ich komme mit.«
»Dann werde ich die Damen in ihr Schlafgemach begleiten.« Jan stand auf und zeigte mit einer einladenden Handbewegung in Richtung Wendeltreppe.
»Die Koffer bringe ich euch hoch. Mia bekommt das linke Zimmer. Lisa schläft in meinem Bett, ich penne so lange unten auf der Couch.«
Die Wendeltreppe war ziemlich eng und ich musste mich konzentrieren, nicht neben die Stufen zu treten. Die Zimmer waren sehr niedrig und die Schrägen des Daches flachten sie an den Außenwänden noch mehr ab.
Ich öffnete die linke Tür. Es war ein sehr kleiner Raum. Das Fenster zeigte nach vorn auf den großen Platz. In der Ferne konnte ich das Flackern des Feuers erkennen. An der rechten Wand, die am höchsten war, stand ein kleiner Kleiderschrank, daneben ein winziger Schreibtisch und ein Stuhl. Alles war aus Holz gefertigt. Auch das Bett, das links unter der Schrägen stand.
»Ich hoffe, das reicht dir«, sagte Jan und stellte meinen Koffer ab. »Es ist nicht groß, aber zum Schlafen wird es hoffentlich genügen.«
»Reicht vollkommen.« Schließlich wollte ich nicht lange hier bleiben.
»Wenn du etwas brauchst: ich bin unten. Sag einfach Bescheid.«
»Mach’ ich. Gute Nacht und vielen Dank, dass wir hier sein dürfen.«
Mit einem Nicken schloss Jan die Tür hinter sich.
Es war still. Nur das leise Trommeln in der Ferne war zu hören. Ich war hundemüde und beschloss, das Zähneputzen für heute ausfallen zu lassen. Ich zog schnell meine Klamotten aus, warf sie über den Stuhl und kramte meinen Snoopy-Schlafanzug aus dem Koffer. Der musste natürlich dabei sein.
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