Ich rollte meine Jacke zusammen und stopfte sie hinter meinen Kopf. Meine Augenlider wurden immer schwerer. Obwohl ich dagegen ankämpfte, gewann schließlich die Müdigkeit und ich schlief ein.
Es wurde wärmer und die Sonne blendete mich. Ich hörte den Motor nicht mehr brummen, auch die Musik aus dem Radio war verklungen. Stattdessen hörte ich Vögel, die für mich ihr fröhliches Lied sangen. Unter mir fühlte ich wieder das weiche Gras. Es war so bequem, dass ich mich lang ausstreckte.
Ich hielt meine Hand vor die Augen als ich sie öffnete, damit ich mich an die Helligkeit gewöhnen konnte. Mein Herz fing an zu klopfen, aber es war nicht das hohle Klopfen aus dem Flugzeug, das selbst nach dem leckeren Bagel und dem Kaffee nicht verschwunden war. Es war ein angenehmes, volles Schlagen. Ich spürte, wie meine Wangen rot wurden und das Blut in jeden Winkel meines Körpers strömte. Ich drehte meinen Kopf nach links, um zu den Bäumen zu blicken, die am Rand der Wiese standen, aber bis dahin reichte mein Blick erst gar nicht. Direkt vor meinem Gesicht tauchten die wunderschönen himmelblauen Augen auf, keine Armlänge von mir entfernt, und beobachteten mich neugierig. Sie zeigten keinerlei Wut oder Angriffslust. Der Wolf hatte seinen Kopf auf die Vorderpfoten gelegt und lag schräg neben mir. Mir fehlte die Kraft, um mich hinzusetzen oder gar weg zu rennen. Aber wollte ich das überhaupt?
Ich schaute in die Tiefen seiner Augen. Ich sah die kleinen Äderchen der Iris, die auf mich wirkten, als würden sie leuchten. Wie ein blauer strahlender Stern. Blau wie der Himmel. Im Schwarz der Pupille konnte ich mich selbst sehen. Ich sah mich, wie ich in seine Augen blickte. Ich lächelte dabei.
Das rabenschwarze Fell schimmerte wie Samt in der Sonne. Es musste sich fantastisch anfühlen. Mein Herz schlug schneller, als ich ganz langsam meine Hand hob. Der Wolf schaute kurz zu ihr herüber, blickte mir dann aber wieder in die Augen. Sein Atem veränderte sich. Er atmete schneller. Sein Blick und seine Körperhaltung blieben jedoch unverändert. Der Wolf lag ganz entspannt neben mir. Ich schob meine Hand weiter in Richtung Fell, ich musste es unbedingt spüren. Es war bestimmt ganz warm von der Sonne – und tatsächlich: meine Hand war noch Zentimeter von ihm entfernt und ich spürte bereits seine Wärme. Ganz leicht berührten meine Fingerkuppen die Spitzen seines Fells.
Der Wolf schloss entspannt die Augen. Bevor ich weiter nach ihm greifen konnte, schüttelte es mich durch. Mein Kopf knallte gegen die Scheibe und ich musste mich festhalten, um nicht vom Sitz zu rutschen.
»Sorry, aber ab hier gibt es keine befestigte Straße mehr«, entschuldigte sich Lisa schulterzuckend.
Ich versuchte mich zu sammeln und richtig hinzusetzen. Ein Teil von mir lag immer noch neben dem Wolf. Meine Finger fühlten sich warm an, als würden sie weiterhin das Fell berühren. »Dann sind wir also bald da?«
»Nein. Wir fahren noch etwa eine Stunde.«
»Eine Stunde? Wir werden jetzt eine Stunde lang durchgerüttelt? Warum liegt die Hütte so weit im Wald?«
Plötzlich machte Lisa eine Vollbremsung. Ich wurde nach vorn geschleudert, aber der Gurt hielt mich zurück, bevor ich mit dem Armaturenbrett zusammenknallen konnte. Verstört schaute ich nach vorn.
Vor uns stand ein riesiger Hirsch mit einem mächtigen Geweih. Langsam näherte er sich unserem Wagen und blieb etwa einen Meter vor uns stehen. Schaute er etwa zu Lisa? Diese beobachtete ihn ganz ruhig. Sie war nicht erschrocken, wie ich. Der Hirsch wandte sich nach einiger Zeit ab und ging gemächlichen Schrittes in den Wald hinein. Sein Geweih trug er stolz wie eine Krone.
»Ein bisschen langsamer jetzt, ok?«, flehte ich Lisa an.
»Die Straße ist nur am Anfang so holprig. Es wird gleich besser«, sagte sie und ignorierte meine Bitte.
Sie hatte recht. Nach einer Viertelstunde war die Straße besser befestigt. Es war zwar immer noch ein Waldweg, aber er war wesentlich fester und ließ sich ruhiger befahren.
»Wärst du ein fremder Mann, würde ich jetzt Panik bekommen, wo du mit mir hinfährst. Kilometerweit in den Wald hinein und das ganz allein«, versuchte ich ein Gespräch anzufangen. Wir schwiegen uns schon viel zu lange an.
»Wer sagt denn, dass du vor mir keine Angst haben musst?« Lisa blickte mich fies über den Rand ihrer Brille hinweg an.
Ich musste lachen, weil das wirklich dämlich aussah. Lisa konnte einfach nicht böse gucken. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als auch sie anfing zu kichern. Ich hatte befürchtet sie sei wegen der Bemerkung über ihren Bruder sauer auf mich gewesen.
»Keine Angst, ich werde dich nicht ermorden, zerstückeln und wilden Tieren zum Fraß vorwerfen. Vielleicht foltere ich dich ein wenig, indem ich dich fessle und dir Schlagerlieder vorspiele oder selbst geschriebene Gedichte vorlese.«
»Oder mich durch die Pampa jagst und jeden Tag mit mir wandern gehst.«
»Natürlich! Was glaubst du denn, warum du hier bist? Um deinen Seelenfrieden zu finden?« Lisa zwinkerte mir zu.
»Seelenfrieden ist doch nichts Schlechtes«, antwortete ich, auch wenn ich mich wunderte, wie Lisa auf dieses Thema kam.
»Nein«, sagte sie ernst. »Es ist neben der Liebe das größte Glück, das einem Menschen passieren kann.« Sie schaute mich an und lächelte. »Der Friede stellt sich niemals überraschend ein. Er fällt nicht vom Himmel wie der Regen. Er kommt zu denen, die ihn vorbereiten.«
»Woher hast du denn bitte den Spruch?« So poetisch kannte ich sie gar nicht.
»Von einem sehr weisen Mann.«
»Ah ja. Und wie soll man seinen Frieden vorbereiten?«
»Frieden wird in die Herzen der Menschen kommen, wenn sie ihre Einheit mit dem Universum erkennen.«
Ich verdrehte die Augen. Das klang überhaupt nicht nach Lisa. Das klang, als würde sie etwas zitieren, das sie in irgendeiner Esoterik-Zeitschrift gelesen hatte. Egal was Lisa mit mir hier draußen vorhatte, aus diesen Sprüchen wurde ich nicht schlau. Einheit mit dem Universum. Das klang für mich eher wie ein Spruch aus der Bibel – oder viel schlimmer: wie von einer Sekte. War Lisa ein Mitglied einer Sekte? Brachte sie mich deshalb nach Kanada in die Einöde? War sie vielleicht jemand, der neue Mitglieder anschleppte? Im Fernsehen hatte ich Berichte über solche Sekten gesehen. Sie bewohnten ganze Dörfer, blieben unter sich und waren davon überzeugt, dass allein ihr Glaube der richtige Weg war. Die Mädchen wurden jung verheiratet und niemand konnte aus dem Dorf fliehen und wenn es doch jemandem gelang, wurde er gewaltsam zurück geholt.
Aber passte das alles zu der Lisa, die ich kannte? Ich konnte es mir nur schwer vorstellen. Dennoch wollte ich versuchen, irgendetwas von ihr zu erfahren. »War der weise Mann vielleicht Priester oder so was?«
Lisa lachte. »So etwas Ähnliches. Du wirst ihn kennenlernen. Vielleicht verstehst du es ja dann.«
Nun verstand ich gar nichts mehr.
Verändere deinen Blick auf die Dinge.
Das zunehmende Licht erhellt nicht nur die Landschaft.
Es steigt auch in dir selbst auf, aus den Tiefen deines Geistes.
Werde dir der Macht bewusst, die dir gegeben ist,
früh am Morgen, im Angesicht der aufgehenden Sonne.
»Wir sind gleich da.« Lisa stoppte den Wagen. Ich hatte aus dem Seitenfenster geschaut und blickte nun nach vorn. Im Scheinwerferlicht konnte ich einen hohen Zaun erkennen. Kein einfacher Maschendraht sondern viel stabiler. Er ragte gefühlte drei Meter vor uns in die Höhe. Am oberen Ende war Stacheldraht aufgerollt. Es wirkte wie ein Hochsicherheitstrakt im Gefängnis.
Auf der Straße befand sich ein schweres, eisernes Tor. Lisa stieg aus dem Wagen und öffnete es. Es war gar nicht verschlossen. Der Anblick des Zaunes und des schweren Tores machte mir Angst. Der Gedanke an eine Sekte wurde immer größer, aber ich wollte mir meine Angst nicht anmerken lassen. Weglaufen hätte eh keinen Sinn gehabt. Von hier aus würde ich nie wieder den Weg zurück finden. Ich räusperte mich. »Dein Bruder hat wohl nicht gern Besuch, was?«
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