»Ist ja gut. Ich wollte Ihnen nur meine Meinung zu dieser Person sagen. Mir ist natürlich bewusst, dass sich an der ganzen Angelegenheit nichts mehr ändern lässt.«
Bevor sich Dagmar Rosenkranz erneut zu Solveig Lilienthal äußert, ergreift die Hauptkommissarin rasch das Wort und sagt: »Dann kommen wir auf meine anfangs gestellte Frage zurück. Wo waren Sie, als das abscheuliche Verbrechen verübt wurde?«
»Im Hotelzimmer. Wenn Sie es wissen wollen, erzähle ich Ihnen auch, was ich dort getan habe. Mein Ehemann hatte einige Cognacs zu viel getrunken. So blieb mir nichts anderes übrig, ihn wie ein kleines Kind zu Bett zu bringen. Was soll ich darüber überhaupt noch erzählen? Ihnen ist sicher längst bekannt, was die Herren bis Mitternacht in der Hotelbar trieben.«
»Dementsprechend kann außer ihrem Ehemann keine weitere Person den Aufenthalt im Hotelzimmer bezeugen.«
»Doch, doch, ich telefonierte eine halbe Stunde nach Mitternacht mit meiner Schwester Freya.«
»Das ist eine recht ungewöhnliche Zeit. Um welche bedeutungsvolle Sache handelte es sich, um zu dieser recht späten Stunde miteinander zu sprechen?«
»Nichts Besonderes. Ich wollte nur wissen, ob ihr Mann ebenfalls sternhagelvoll aus der Bar nach oben gekommen ist.«
»Sie hat es Ihnen bestätigt?«
»Wir tauschten uns vordergründig über Solveig Lilienthal aus und nicht zu der Bagatelle, dass unsere Ehemänner zu viel getrunken hatten. Meine Schwester war richtig wütend, dass diese Person die Hälfte von dem Vermögen unseres Vaters erhält. Dazu habe ich keine andere Meinung. Es ist eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit, dass Solveig Lilienthal derart umfangreich im Testament bedacht wird. Schließlich waren es nur zwei Jahre, dass sie mit unserem Vater zusammen lebte. Zu der ganzen Angelegenheit gab es zwischen uns beiden keinerlei unterschiedliche Auffassung.«
Nach der üblichen Belehrung, sich in ihrem Heimatort zur Verfügung zu halten, wird das Ehepaar von den Kommissaren verabschiedet. Auch sie erhalten die Erlaubnis, Akazienaue mit sofortiger Wirkung zu verlassen.
»Dann bleiben von den Familienangehörigen Malte Baader und das Ehepaar Damaschke aus Berlin übrig. Wir sollten uns zunächst den Letztgenannten widmen. Malte Baader verbleibt im Hotel und verlässt Akazienaue erst morgen im Laufe des Tages. Dementsprechend steht er unter keinerlei Zeitdruck. Ihm wird es gleichgültig sein, wann das Gespräch geführt wird. Ich gebe Bescheid, dass jetzt die Damaschkes hereinkommen sollen und hoffe auf dein Einverständnis«, äußert Jens Knobloch.
Freya und Norbert Damaschke betreten in Begleitung des Kommissars den Raum. Sie ist, ähnlich wie ihre Schwester Dagmar, in Schwarz gekleidet. Der maßgeschneiderte Hosenanzug strahlt eine schlichte Eleganz aus. Ihr Ehemann Norbert ist ebenfalls im schwarzen Anzug erschienen. Mit ernster Miene setzen sie sich an den Tisch. Die vom Weinen geröteten Augen verraten, dass Freya der Tod ihrer Schwester ziemlich schmerzlich berührt. Veronika Sommercamp überlegt kurz: So sieht eine kaltblütige Mörderin nicht aus. Doch ist Vorsicht geboten. Es besteht die Möglichkeit, dass uns nur etwas vorspielt wird. Dazu habe ich in meiner Laufbahn als Kriminalkommissarin zu viele unliebsame Überraschungen erlebt. Ohne weitere Umschweife sagt die Hauptkommissarin: »Wir können die Zeit, in welcher Ihre Schwester Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, ziemlich genau eingrenzen. Deshalb interessiert uns, wo Sie sich in der vergangenen Nacht zwischen zwölf und zwei Uhr aufhielten.«
»Wie alle anderen war ich ebenfalls im Hotelzimmer. Um Ihrer nächsten Frage zuvorzukommen, füge ich hinzu, dass es außer meinem Ehemann niemand bezeugen kann. Saskia ist meine Zwillingsschwester. Ihr Tod bewegt mich zutiefst. Im Gegensatz zu den anderen Geschwistern, besaßen wir ein inniges Verhältnis. Das könnte daran liegen, dass wir gleichaltrig aufwuchsen.«
»Fiel Ihnen in der Nacht irgendetwas auf? Zum Beispiel, ob eine Person das Haus verließ und zu später Stunde das Hotel wieder betrat?«
»Nein, auf keinen Fall. Außer, dass ich mit meiner Schwester Dagmar telefonierte, geschah nichts Erwähnenswertes. Unser Zimmer wurde auf Ihre Anweisung hin durchsucht. Ich gehe davon aus, dass die Aktion ohne Ergebnis verlief. Ansonsten hätten Sie es uns mitgeteilt. Nebenbei bemerkt kann ich mir nicht vorstellen, was Sie zu finden hofften.«
»Die Bemerkung finde ich überflüssig. Durch ihre Schwestern haben Sie sicher vernommen, dass wir Ihnen darauf keine Antwort geben«, sagt Jens Knobloch.
»Das ist richtig. Natürlich haben wir uns kurz ausgetauscht, um was es sich bei der Vernehmung handelt und welche Fragen Sie stellen. Ich habe mich danach erkundigt, weil sich nur noch Malte Baader im Hotel aufhält. Dass es zwischen ihm und uns zu keiner Verständigung kommt, dafür werden Sie mit Sicherheit sorgen. Dementsprechend gibt es nicht den geringsten Grund, mir keine Erklärung für ihr polizeiliches Vorgehen vorzuenthalten.«
Anstatt auf den recht deutlichen Vorwurf näher einzugehen, erfolgt eine Belehrung über die Verhaltensregeln bis zur Aufklärung des Verbrechens. Dann können auch Freya und Norbert Damaschke die Heimreise antreten.
Die Kommissare schauen sich nachdenklich an. Jens Knobloch bricht als erster das kurze Schweigen und bemerkt: »Wenn nicht ein Wunder geschieht und Malte Baader uns etwas gänzlich Neues liefert, weiß ich nicht, wie wir nach dem bisher Gehörten den Fall lösen. Entweder bot eine von den drei Schwestern eine brillante schauspielerische Leistung oder sie haben tatsächlich nichts mit dem Mord zu tun.«
»Bevor wir uns darüber den Kopf zerbrechen, hören wir uns klugerweise den Sohn von Friedbert Voß an. Eventuell liefert er uns den entscheidenden Hinweis.«
Malte Baader kommt mit einem Lächeln in den Raum und setzt sich an den Vernehmungstisch. Lässig schlägt er die Beine übereinander und lehnt sich entspannt zurück. Die merklich verwunderten Blicke der Kommissare werden von ihm mit der Bemerkung kommentiert: »Warum soll ich Ihnen den trauernden Bruder vorspielen. Meinen vier Halbschwestern bin ich seit jeher ein Dorn im Auge. Wenn nicht Friedbert darauf gedrungen hätte, wäre ich bei keiner Familienfeier dabei gewesen. Von mir aus pflegte ich die Verbindung zu ihnen nicht. Das beruhte selbstverständlich auf Gegenseitigkeit.«
Bereits beim Betreten des Raumes mustert ihn Veronika Sommercamp unauffällig. Die kurzen, leicht gewellten schwarzen Haare sowie der dunkle Teint bewirken ein recht interessantes und attraktives Erscheinungsbild. Banal würde man von einem idealen Schwiegermuttertyp sprechen. Auch scheint er sich seiner Wirkung auf Frauen bewusst zu sein. Ohne den geringsten Anflug von Verlegenheit schaut er der Kommissarin herausfordernd in die Augen. Genau so, als wolle er damit zum Ausdruck bringen wollen: Hallo, du bist wohl ziemlich beeindruckt von meiner Erscheinung! Sein Benehmen hat gleichzeitig etwas Theatralisches an sich. Das Lächeln wirkt aufgesetzt und Veronika Sommercamp glaubt, bei ihm eine gespannte Erwartungshaltung zu spüren, die er geschickt zu verbergen versucht. All ihre Überlegungen zu den Äußerlichkeiten laufen in sekundenschnelle ab. Augenblicklich löst sie sich davon und beginnt mit der Vernehmung.
»Nachdem Sie derart offenherzig ihre Beziehungen zu den Töchtern von Friedbert Voß offengelegt haben, ist meine erste Frage beantwortet, bevor ich sie überhaupt gestellt habe. Etwas mehr Pietät beim Tod eines Familienangehörigen wäre trotzdem angebracht.«
Wie ein vom Lehrer zurechtgewiesener Schuljunge verändert Malte Baader die großspurige Sitzhaltung und legt die arrogante Pose ab.
Wumm! Das hat gesessen, überlegt Jens Knobloch. Ihn beeindruckt, wie es seine Vorgesetzte schafft, mit wenigen Worten und dem entsprechenden Tonfall darauf hinzuweisen, wer bei der Vernehmung die Chefrolle innehat.
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