»Malte Baader ist ein uneheliches Kind, in gewissem Sinne der Halbbruder der vier Töchter. Er erschien erst kurz vor Beginn der Trauerfeier. Alle anderen wohnen seit zwei Tagen im Hotel.«
»Eine Sache verstehe ich nicht«, wendet sich Jens Knobloch an die Hauptkommissarin, »wenn Friedbert Voß eine geräumige Villa besitzt, warum sind seine Kinder dann im Hotel untergebracht?«
Armin Wenzel meldet sich beflissen zu Wort und erklärt: »Die Frage kann ich Ihnen sofort beantworten. Der Verstorbene verfügte es ausdrücklich in seinem letzten Willen. Das teilte mir der Rechtsanwalt Dr. Bert Salomon mit. Ich habe ihm die gleiche Frage gestellt, die Sie soeben an die Hauptkommissarin richteten.«
»Sie wissen ja eine ganze Menge«, sagt Veronika Sommercamp anerkennend, »woher stammen die Detailkenntnisse? Selbst die Konstellationen innerhalb der Familie sind Ihnen bekannt, obwohl die Familienangehörigen erstmals in ihrem Hotel übernachten.«
Voller Stolz auf das soeben gehörte Lob sagt Armin Wenzel: »Ich unterhalte mich gerne mit meinen Gästen. Viele von ihnen erkundigen sich nach den besten Wanderwegen. Andere hingegen planen eine Bootsfahrt und benötigen dafür Tipps von mir. Die gebe ich sehr gerne. Man glaubt kaum, wie mitteilungsfreudig Menschen sind, wenn man ihnen genügend Aufmerksamkeit schenkt.«
»Dann ist Ihnen sicher ebenfalls bekannt, was in dem Testament verfügt wurde?«, fragt Veronika Sommercamp.
»Um Gottes willen! Ich lausche doch nicht an den Türen. Nachdem der Rechtsanwalt das Hotel verlassen hat, haben sich die Gäste mit keinem Wort mehr mit mir unterhalten. Allein Saskia Jungblut und Solveig Lilienthal zeigten ein recht freundliches Gesicht. Für die anderen schienen die Verfügungen von Friedbert Voß offenkundig nicht ihren Vorstellungen zu entsprechen. Sie zogen sich sofort in ihre Zimmer zurück. Zugegebenermaßen sind das alles lediglich Vermutungen von mir. Genaueres kann ich Ihnen zu den Vorgängen nicht sagen.«
Veronika Sommercamp entgegnet: »Ich finde es absolut nicht ungewöhnlich, dass man nach Kenntnis einer Erbschaft das Bedürfnis verspürt, erst einmal allein und unter sich zu sein. Es betrifft schließlich ein größeres Vermögen. Auf diese Weise hatten Sie sich bei ihren Bemerkungen zu den Verstorbenen geäußert.«
»Ja, das stimmt. Bevor die Töchter Kenntnis von dem Testament erhielten, haben alle vier stundenlang zusammengesessen und sich lebhaft unterhalten. Es fällt einem auf, wenn die Stimmung mit einem Mal umschlägt.«
»Demzufolge sind alle Gäste auf ihren Zimmern geblieben und verzichteten auf ein gemeinsames Abendessen«, stellt Jens Knobloch fest.
»Das wiederum auch nicht. Gegen zwanzig Uhr saßen alle erneut in der Gaststätte und haben zusammen das Abendbrot eingenommen. Ich hatte den Eindruck, dass eine gedrückte Stimmung herrschte. Die Töchter wechselten kaum ein Wort miteinander. Einzig und allein Malte Baader und Saskia Jungblut unterhielten sich ab und zu. Die vier Frauen sind nach einer halben Stunde wieder auf ihre Zimmer gegangen. Die Männer dagegen hielten sich noch längere Zeit an der Bar auf. Es hatte den Anschein, dass sie, im Gegensatz zu ihren Ehefrauen, mit der Erbschaft recht zufrieden waren.«
»Wissen Sie, zu welcher Uhrzeit die Ehemänner und Malte Baader die Hotelbar verließen?«, fragt Veronika Sommercamp.
»Das kann ich Ihnen auf die Minute genau sagen. An diesem Abend hatte ich mir vorgenommen, die Übertragung eines Fußballspiels anzuschauen. Wegen der vier Trinkbrüder wurde nichts daraus.«
»Nun sagen Sie uns schon die Uhrzeit«, äußert sich Veronika Sommercamp ungeduldig. Die Hauptkommissarin befürchtet, dass Armin Wenzel entsprechend seiner ausschweifenden Erzählweise, augenblicklich anfängt, ausführlich über ein verpasstes Fußballspiel zu berichten.
»Es war gegen Mitternacht, als sie schließlich gingen. Aber von gehen konnte keine Rede sein. Die waren alle sternhagelvoll und mussten sich gegenseitig stützen. Zudem redeten sie wirren Zeugs. Immerzu handelte es sich ums Geld und was sie damit anfangen werden. In ihrem alkoholisierten Zustand konnte man das nicht wirklich ernst nehmen.«
»Wie erfolgte denn das Bezahlen der Rechnung? Hat einer von den Herren die ganze Zeche beglichen?«
»Nein, nein, die Kosten für die Getränke habe ich auf die Hotelrechnung gesetzt. Da kommt erst bei der Bezahlung am Abreisetag die richtige Katerstimmung auf. Mir war es an diesem Abend recht. Der Umsatz hat mich auf alle Fälle für das entgangene Fußballspiel entschädigt. Ich möchte nicht wissen, was deren Frauen sagen, wenn sie die Rechnung von der Herrenrunde zu Gesicht bekommen. An diesem Abend wurde nur das Teuerste getrunken, was ich anzubieten habe. Doch das ist nicht mein Problem.«
»Eine letzte Frage. Trauen Sie einem der Männer zu, dass er nach dem Verlassen der Bar aus dem Haus ging und sich mit dem Opfer getroffen hat?«, fragt Veronika Sommercamp.
»Auf keinen Fall. Die hatten noch heute Morgen glasige Augen und deren Alkoholfahne überlagerte den aromatischen Kaffeeduft im Frühstücksraum bis in den letzten Winkel. Von denen war niemand in der Lage, um Mitternacht auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen.«
Die Kommissare fordern die Familienmitglieder auf, vorläufig Akazienaue nicht zu verlassen und sich für eine Vernehmung bereitzuhalten. Veronika Sommercamp äußert gegenüber ihren Kollegen: »Ich fahre sofort in die Pathologie und du sprichst mit Solveig Lilienthal. Lasse dir vor allem die Kopie des Testamentes zeigen. Der Rechtsanwalt übergab sicher den Begünstigten ein solches Papier. Noch besser wird sein, du bringst es gleich mit. Denke bitte daran, dir einen Überblick über die Vermögensverhältnisse zu verschaffen. Ebenso interessiert mich der Wert der Villa. In zwei Stunden bin ich wieder hier. Dann fangen wir mit den Befragungen an. Die Mitarbeiter von der Spurensicherung werden inzwischen die Fingerabdrücke und die DNA von den Familienmitgliedern abnehmen.«
Jens Knobloch lässt sich von Achim Wenzel den Weg zu dem Haus von Friedbert Voß beschreiben. Nach zwanzig Minuten Fußmarsch steht er vor einer eindrucksvollen Villa. Sein Blick fällt auf ein im charmanten Stil der fünfziger Jahre erbautes Gebäude. Umsäumt wird das Haus von einer überaus beachtenswerten parkähnlichen Gartenanlage. Der Pool am Ende des Grundstückes scheint beheizbar zu sein. Das bläulich schimmernde Wasser weist zumindest darauf hin. Ansonsten wäre um diese Jahreszeit das Schwimmbecken geleert. Alles vom Feinsten, stellt Jens Knobloch fest und betätigt den Klingelknopf. Unter Benutzung der Wechselsprechanlage bittet er um Einlass. Das Summen am Türgriff signalisiert ihm, dass er eintreten kann. Mit Blick auf den Dienstausweis sagt Solveig Lilienthal statt einer Begrüßung sichtlich verunsichert: »Polizei? Sie sind Kriminalkommissar. Was führt Sie zu mir?«
Ihre Verblüffung legt sie im Handumdrehen ab und bittet ihn, einzutreten. Dem geübten Auge des Kommissars entgeht nicht ihre sichtliche Nervosität, die sie hinter einem freundlichen Mienenspiel zu verbergen versucht. Nachdem beide in der Couchgarnitur Platz genommen haben, mustert der Kommissar unauffällig seine Gesprächspartnerin. Vom Alter her schätzt er sie auf Mitte Vierzig. Die langen braunen Haare umrahmen ein ebenmäßig geformtes, äußerst anmutsvolles Gesicht. Die sinnlichen Lippen und die großen Augenlider mit dem sparsam verwendeten Make-up unterstreichen ihr attraktives Erscheinungsbild. Nur die sorgfältig lackierten langen Fingernägel und der kostbare Schmuck, den sie an den Handgelenken und Fingern trägt, passen nicht recht in das Bild, welches sich der Kommissar unter einer Haushaltshilfe vorstellt. Insgesamt besitzt sie eine sympathische Ausstrahlung. Ihr interessantes Aussehen unterstreicht sie obendrein mit einem bezaubernden Lächeln. Der Kommissar kann sich des Eindruckes nicht erwehren, dass es ein wenig aufgesetzt wirkt. Er glaubt, bei ihr eine gewisse Unsicherheit zu verspüren. Die kaum merkliche Angespanntheit führt Jens Knobloch auf seine Dienstellung zurück. Ein solches Verhalten hat er öfters auch bei anderen Personen bemerkt. Er misst der Wahrnehmung im Moment keine weitere Bedeutung bei. Vielmehr lässt ihn das in den frühen Vormittagsstunden ungewöhnlich gepflegte Erscheinungsbild ins Grübeln kommen. Umgehend löst er sich von der Betrachtungsweise des Äußeren und der subjektiven Beurteilung ihres Aussehens. Der Kommissar beginnt die Unterhaltung mit einer Frage, die mehr einer Feststellung gleicht: »Sie haben von dem Vorfall in der vergangenen Nacht gehört und können sich denken, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin.«
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