Vor der Zimmertür ziehen die Kommissare die Füßlinge an und streifen sich die Latexhandschuhe über. Nachdem sie den Raum betreten haben, wendet sich Jens Knobloch an Armin Wenzel: »Wie sie sehen, steckt der Schlüssel von innen. Saskia Jungblut hatte offenbar keine längere Abwesenheit aus dem Zimmer geplant. Bitte warten sie in der Gaststätte auf uns. Wir kommen in Kürze wieder zu Ihnen.«
Enttäuscht, dass er bei der Durchsuchung ausgeschlossen wird, begibt sich Armin Wenzel nach unten. Die Kommissare schauen sich im Zimmer der Ermordeten um. Veronika Sommercamp stellt fest: »Es sieht danach aus, als wurde Saskia Jungblut durch irgendetwas gestört. Auf dem Tisch steht der Handspiegel, daneben liegen die Haarbürste, die Utensilien für die Pflege der Fingernägel sowie die Nachtcreme.«
»Woran erkennst du, dass sie abgelenkt wurde?«, fragt Jens Knobloch interessiert.
»Eine Frau hat dafür einen Blick. Alle Dinge liegen griffbereit an ihrem Platz. Wogegen ein Wattebällchen, welches man zum Entfernen von Fingernagellack benutzt, weder auf dem Tisch noch im Papierkorb zu sehen ist.«
Jens Knobloch öffnet das Schmuckkästchen. Es ist bis an den Rand gefüllt mit Halsketten und Ringen. Er zeigt es der Hauptkommissarin und sagt: »Auf den ersten Blick scheint nichts zu fehlen.«
Veronika Sommercamp schaut sich den Inhalt an. Sie nimmt einen mit Edelsteinen besetzten Armreifen in die Hand. Verwundert ruft sie aus: »Oh! Das scheint echter Schmuck zu sein. Ohne genauere Prüfung würde ich sagen, dass er einen hohen Wert besitzt. Das ist kein Billigkram aus der Modeschmuckabteilung eines Warenhauses. Dieser hier stammt von einem begnadeten Juwelier. Es ist eine, selbst von einem Laien erkennbare, ausgesprochen filigrane Arbeit.«
Jens Knobloch nimmt die Ausführungen seiner Vorgesetzten zur Kenntnis und kommentiert gelassen: »Der Täter hat es keinesfalls auf den Schmuck abgesehen. In dem Fall hätte man die Tote eher hier im Hotelzimmer gefunden. Ich schaue im Reisegepäck nach. Möglicherweise entdecke ich irgendetwas Interessantes.«
Er nimmt den Koffer aus dem Schrank. Entgegen seinen Vorstellungen beinhaltet er nichts weiter als Kleidung, die man für ein paar Tage Abwesenheit von zu Hause benötigt.
»Ich finde nichts Bemerkenswertes und stelle ihn wieder zurück«, bemerkt Jens Knobloch.
Als er im Begriff ist, das Gepäckstück zu verstauen, ruft Veronika Sommercamp: »Moment, halte bitte inne! Da ragt ein Briefumschlag zu einem Drittel aus der Seitentasche des Koffers heraus.«
Jens Knobloch stutzt: »In der Tat. Den habe ich übersehen.«
Er nimmt ihn zur Hand und faltet den Brief auseinander. Ohne auf eine Aufforderung zu warten, liest er den Text vor: »Liebe Saskia, du bist die Einzige, die sich in den letzten zwei Jahren um mich gekümmert hat. Deshalb gehört dir die Hälfte des Vermögens. So habe ich es in meinem Testament festgelegt. Ich hoffe, dass du damit glücklich wirst und das Geld Dir ein unbeschwertes Leben ermöglicht. Pass auf dich auf! Deine Geschwister werden es dir neiden.«
»Das ist knallhart formuliert. Ich vermute, wir haben damit ein recht eindeutiges Motiv für den Mord«, ruft Veronika Sommercamp erstaunt aus, »es passiert selten, dass wir zu Beginn der Ermittlung den Beweggrund für ein Verbrechen präsentiert bekommen.«
»Damit erklärt sich, warum dem Täter oder der Täterin weder die Kreditkarte noch der Schmuck interessierten. In dem Fall scheint es sich nicht allein um ein paar tausend Euro zu handeln. Mir kommen sofort die Worte von Armin Wenzel in Erinnerung, als er uns über die gestrige Beerdigung berichtete. Er äußerte unter anderem, dass der Dahingeschiedene sehr vermögend gewesen sei. Es scheint so, dass dieser Herr zukünftig recht bedeutend für unsere Ermittlung sein könnte«, führt Jens Knobloch aus.
»Wie war gleich der Name des Verstorbenen, der gestern beerdigt wurde?«, fragt die Hauptkommissarin.
Jens Knobloch schaut in sein Notizblock und antwortet: »Er heißt Friedbert Voß. Es empfiehlt sich, dass wir uns rasch einen Überblick über seine Vermögensverhältnisse verschaffen. Darüber hinaus sind die Familienangehörigen aufzufordern, vorläufig im Haus zu bleiben und sich für eine Befragung bereitzuhalten.«
»Zumindest für die nächsten vierundzwanzig Stunden. Wenn wir bis dahin keine Beweise haben, dann haben wir keinerlei Berechtigung, sie länger hierzubehalten«, merkt Veronika Sommercamp einschränkend an.
»Ich denke, dass in dem Fall die Ermittlungen ausgesprochen einfach sind. Die gesetzlich vorgeschriebenen Fristen reichen für die Befragung der verdächtigen Personen völlig aus. Schließlich halten sie sich alle unter einem Dach auf.«
Im Gastraum wartet Armin Wenzel ungeduldig auf die beiden Kommissare. Er sieht sich zum wiederholten Mal berufen, eine überaus bedeutsame Rolle bei der Aufklärung eines Mordes zu spielen. Voller Neugier fragt er: »Haben Sie bereits einen Anhaltspunkt, wer Saskia Jungblut ermordete? Wenn nicht, biete ich Ihnen selbstverständlich meine Hilfe an.«
Veronika Sommercamp muss über die Diensteifrigkeit des Hotelbesitzers kurz lächeln. Allerdings wird sie sogleich wieder ernst und antwortet: »Wenn wir irgendetwas finden, wird es beim jetzigen Stand der Ermittlung mit Sicherheit von uns nicht publiziert. Dessen ungeachtet beantworte ich Ihnen gerne den zweiten Teil Ihrer Äußerung. Nach Lage der Dinge benötigen wir Ihre Hilfe. Setzen wir uns gemeinsam an einen Tisch, um darüber zu sprechen.«
Jens Knobloch nimmt sein Notizbuch zur Hand und sagt: »Schildern Sie uns bitte einmal den Ablauf des gestrigen Tages. Wir hätten gerne gewusst, wie sich die Familienmitglieder verhielten. Es ist denkbar, dass es eine Abweichung vom normalen Verhalten gab. Möglicherweise ist Ihnen eine Besonderheit aufgefallen.«
Armin Wenzel schildert bis ins Detail den Tagesablauf. Bei der ausführlichen Beschreibung seines Fünf-Gänge-Menüs unterdrückt Veronika Sommercamp mit Mühe ein Gähnen. Mit einem Male wird sie hellhörig, als er sagt: »Die Trauergemeinde kam vom Friedhof und begab sich ohne Verzug in den Salon. Dort wurden die Familienmitglieder von Dr. Bert Salomon erwartet.«
An dieser Stelle unterbricht die Hauptkommissarin den Redeschwall von Armin Wenzel: »Wer ist Herr Salomon und welchen Raum bezeichnen sie mit ‚Salon’?«
»Es handelt sich um einen Empfangsraum für spezielle Anlässe. Dort wird man nicht vom üblichen Hotel- und Gaststättenbetrieb gestört. Dahin hatte der Rechtsanwalt des Verstorbenen die Kinder und die Haushälterin von Friedbert Voß zur Eröffnung des Testamentes eingeladen. Einen solchen Raum mit einer gewissen intimen Atmosphäre findet man sonst nirgendwo in der ganzen Umgebung«, fügt Armin Wenzel selbstbewusst hinzu.
»Um wie viele Personen hat es sich dabei gehandelt?«, will Jens Knobloch wissen.
»Hm, ja, also, es war Solveig Lilienthal anwesend. Sie führte den Haushalt des Dahingeschiedenen. Die anderen Anwesenden kannte ich nicht. Sie wohnen alle hier im Hotel. Das Beste wird es sein, dass ich den Aktenordner mit den Anmeldescheinen hole. Dann ist ausgeschlossen, dass mir ein Fehler unterläuft.«
Jens Knobloch bemerkt: »Saskia Jungblut ist uns bekannt. Es handelt sich dabei um die Ermordete. Den Anmeldeschein zeigten Sie uns bereits.«
»Ja, dann waren weiterhin anwesend Freya Damaschke mit ihrem Ehepartner Norbert, Alida und Tassilo Morgenroth sowie Dagmar und Falko Rosenkranz.«
»Dementsprechend sind sieben Personen zur Testamentseröffnung erschienen«, wirft Jens Knobloch ein.
»Nein, es waren acht. Ich war mit meinen Ausführungen nicht zu Ende, als sie mich unterbrachen. Zu den Anwesenden gehörte außerdem Malte Baader. Es handelt sich um den Sohn von Friedbert Voß.«
»Wieso heißt der Sohn Baader und nicht Voß. Ist er verheiratet und hat den Namen seiner Frau angenommen?«, fragt Veronika Sommercamp.
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