»Was hast du derart Interessantes entdeckt, um wie ein Straßenjunge zu pfeifen?«, fragt Veronika Sommercamp belustigt.
»Sieh hierher! Eine Visitenkarte vom Hotel ‚Haus am Akaziensee‘. Das ist ein erster Anhaltspunkt. Es besteht die Möglichkeit, dass es sich bei der Toten um einen Hotelgast handelt.«
Veronika Sommercamp schaut auf das Kärtchen und bemerkt: »Hoffentlich haben wir Glück. Dann verlieren wir zumindest keine Zeit, um Näheres zur Identität der Toten zu erfahren. An der Rezeption wird man uns sicher im Handumdrehen Auskunft geben.«
Beide begeben sich über die Uferpromenade hinauf zum Hotel. Nach der Hälfte der Wegstrecke tönt ihnen ein umgängliches ‚Hallo’ entgegen. Auf der Terrasse steht Armin Wenzel, Eigentümer des ‚Haus am Akaziensee'. Die beiden Kriminalkommissare sind für ihn keine Unbekannten. Erst vor acht Wochen hat er mit ihnen an einem Tisch in der Gaststätte zusammengesessen. Der Grund war die Aufklärung des Mordes an dem ärztlichen Direktor des Klinikums in Ballenhainischen. Armin Wenzel gab ihnen den ausschlaggebenden Hinweis für die Lösung des Gewaltverbrechens. Ebenfalls spielte der Hotelbesitzer vor annähernd sechzehn Jahren eine maßgebliche Rolle in einem Mordfall. Er fand damals die durch einen Giftmord ums Leben gekommene Tierärztin Paula Pattberg unweit vom Ort unter einem Schlehendorn. Aufgrund dessen ist es nicht verwunderlich, dass er die Kommissare wie alte Bekannte begrüßt. »Ich habe Sie erwartet. Wenn es eine Tote gibt, dann dauert es nicht lange, und die Kripo steht auf der Matte. Kommen sie herein. Auf uns wartet ein frisch gebrühter Kaffee.«
Sein legerer Umgangston ist ihnen geläufig und sie stoßen sich in keinerlei Hinsicht daran. Das Gegenteil ist der Fall. Jens Knobloch geht auf die zwanglose Begrüßung ein und sagt mit einem verschmitzten Lächeln: »Wenn es sich in dieser Art weiter entwickelt, dann wird Akazienaue zu einem Knotenpunkt des kriminellen Geschehens im Landkreis. Sie müssen aufpassen, dass unter solchen Bedingungen überhaupt noch Gäste zu Ihnen kommen. Zumindest hätte ich als Hotelgast eine höllische Angst, dass mir ebenfalls irgendetwas zustößt.«
»In dieser Hinsicht widerspreche ich Ihnen energisch. Bei unserem letzten Zusammentreffen handelte es um eine Person aus der Hauptstadt und nicht um einen hier ansässigen Dorfbewohner. Ich lebe seit dreißig Jahren hier. Es war immer geruhsam und beschaulich in unserer Gemeinde. Zugegeben, bis auf die Ausnahme mit der Giftmörderin. Doch lassen wir die alten Geschichten. Wie kann ich Ihnen diesmal behilflich sein?«
»Bei der Toten unten am Strand ist nicht ausgeschlossen, dass sie zu Ihren Gästen gehörte. Zumindest fanden wir in ihrer Handtasche ein Kärtchen von dem Hotel«, sagt Veronika Sommercamp.
»Wie lautet denn ihr Name? Gegenwärtig sind nicht mehr als fünf Zimmer belegt. Ich denke, die Anzahl ist überschaubar.«
»Er handelt sich um Saskia Jungblut. Mehr wissen wir im Moment nicht.«
»Der Name kommt mir bekannt vor. Schauen wir ohne größeren Aufwand in meinen schlauen Aktenordner. Dort sind die Anmeldeformulare abgeheftet. Faktisch betreibe ich den Papierkram hauptsächlich wegen der Steuer.«
Triumphierend hält er ein Formular in der Hand und bemerkt: »Sehen Sie, bei mir herrscht preußische Ordnung. Ein Griff genügt und sie haben die gewünschten Angaben. Die Dame stammt aus Rudolstadt. Das liegt im Thüringischen. Sie ist vor zwei Tagen angereist. Es hängt sicher mit der Beerdigung zusammen. Das ist keine Spekulation von mir. Gestern waren alle Gäste in schwarz gekleidet. Zu ihnen gehörte Saskia Jungblut.«
»Um wem handelt es sich bei dem Verstorbenen?«, fragt Jens Knobloch.
»Friedbert Voß wurde beigesetzt. Er kaufte vor zwei Jahren die prächtige Stadtvilla oberhalb vom Akaziensee. Das Grundstück umfasst mehr als viertausend Quadratmeter. Obendrein hatte er sich eine Luxusyacht angeschafft. Es wird gemunkelt, dass er verdammt reich sei und sein Vermögen im Ausland erlangt habe. Genauere Angaben sind mir nicht bekannt. Meine Aussagen beziehen sich auf das, was einem mehr oder weniger erzählt wird.«
»Erstaunlich, dass sich ein Millionär in Ihrem bescheidenen Ort niedergelassen hat. Das hört man nicht alle Tage. Wie alt ist er geworden?«
»Er feierte erst vor kurzem seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag. Na ja, wahrhaft kein Alter, um sich von der Welt zu verabschieden. Dem Tod entkommt niemand. Ich vermag in dem Zusammenhang nur den bekannten Spruch zu strapazieren, dass keiner, auch wenn er noch so viel Geld besitzt, davon verschont bleibt.«
»Woran ist er denn gestorben?«, fragt Jens Knobloch weiter.
»Also, verbürgen möchte ich mich nicht dafür. Sein Gärtner erzählt überall im Dorf, dass Friedbert Voß absolut friedlich und für immer eingeschlafen sei. Wie man nicht müde wird zu betonen, war er ein regelrechter Gesundheitsfanatiker. Außerdem trieb er regelmäßig Sport. Kein Wunder, bei einer dreißig Jahre jüngeren Haushälterin war sicher eine gehörige Portion Kondition erforderlich«, äußert Armin Wenzel und lächelt bei dieser Bemerkung vieldeutig.
Jens Knobloch befriedigt die Auskunft nicht vollständig. Der Tod eines bemerkenswert vermögenden Einwohners in diesem kleinen Ort gibt ihm zu denken. »Eine letzte Frage: Sie sind über alles, was in Akazienaue passiert, recht gut informiert. Dann ist Ihnen sicher bekannt, wer den Totenschein ausstellte?«
»Aber gewiss. Es war Dr. Frank Ringhof, der Hausarzt des Verstorbenen. Er wurde von der Haushälterin Solveig Lilienthal in die Villa gerufen. Ich nehme an, dass sie an eine Rettung oder Wiederbelebung glaubte. Zumindest erzählte es der Gärtner am Stammtisch in meiner Gaststätte. Bei solchen Schilderungen höre ich voller Interesse zu. Man muss schließlich Bescheid wissen, was in unserer Gemeinde geschieht«, fügt er schmunzelnd hinzu.
Veronika Sommercamp hat das Gespräch anfangs aufmerksam verfolgt. Im Moment scheint ihr die Beschäftigung mit einer Person, die eines natürlichen Todes gestorben ist, ausreichend zu sein. Sie unterbricht das Gespräch der beiden Männer und äußert: »Kehren wir bei allem Respekt vor dem Verstorbenen zu unserem aktuellen Fall zurück. Saskia Jungblut wurde hinterrücks ermordet. Das steht zumindest nach den ersten Untersuchungen durch Dr. Monika Bieberstein fest. Wir durchsuchen zunächst das Hotelzimmer. Es ist denkbar, dort einen ersten Hinweis auf den Täter oder die Täterin zu finden.«
Armin Wenzel schaut auf das Schlüsselbrett an der Rezeption und runzelt seine Stirn. Ein wenig ratlos sieht er die Kommissare an und sagt: »Es ist eigenartig. Wenn meine Gäste die Unterkunft verlassen, dann hinterlegen sie ihren Zimmerschlüssel am Tresen. Der Schlüssel von Zimmer zwei fehlt. In ihm war Saskia Jungblut untergebracht.«
»Was ist daran außergewöhnlich? Sicher wurde von ihr das Hotel nur zu einem kurzen Spaziergang verlassen. Sie hielt die Hinterlegung nicht für erforderlich oder vergaß es schlicht und einfach«, äußert Veronika Sommercamp.
»Das wäre das erste Mal, dass einem Gast so etwas passiert. Damit nicht laufend Schlüssel verloren werden oder bei der Abreise aus Unachtsamkeit im Reisegepäck verschwinden, hängt an jedem ein recht schweres Akazienblatt aus Messing. Es ist sperrig und auf alle Fälle nicht für die Aufbewahrung in einer Damenhandtasche geeignet.«
»Damit könnten Sie recht haben. In der Handtasche ist er mit Sicherheit nicht gewesen. Sonst hätte man ihn uns mit den Ausweispapieren übergeben«, bemerkt Jens Knobloch.
»Möglicherweise lässt sich das Problem ganz einfach lösen, indem wir nachschauen, ob sie ihn beim Weggehen heute Nacht stecken ließ. Zuvor gebe ich den Kollegen der Spurensicherung Bescheid. Sie erhalten den Auftrag, sich das Zimmer von Saskia Jungblut gründlich anzuschauen. Es könnte durchaus sein, dass sie vor dem Verlassen des Hotels Besuch bekommen hatte«, äußert Veronika Sommercamp.
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