Hieronymus schwieg erstmal eine Weile betreten, während Max hastig seinen Kaffe austrank und aufstand um sich nachzuschenken.
»Ich verstehe ja jetzt, warum du sauer bist, aber immer noch nicht ganz, warum du jetzt die ganze Zeit nicht mehr zur Schule kommst«, setzte er an.
»Na, das kennen Sie doch, ›wenn die Katze aus dem Haus ist‹ ... Passt doch jetzt niemand auf mich auf, der Arsch ist endlich tot, und Mama ist doch auch abgetaucht. Und für Kanada ist es jetzt eh zu spät, da sind die Fristen für alles Mögliche um.«
»Ja schon«, versuchte es Hieronymus jetzt und blickte auf Max` Smartphone auf dem Tisch, das sich gerade kurz aufleuchtend mit einem knappen Signalton gemeldet hatte, von Max dafür aber nur mit einem kurzen Blick gewürdigt wurde. Seit wann hatte Max überhaupt so ein teures Gerät? »Aber wenn du jetzt die Schule schmeißt, bestätigst du doch deinen Vater nur nachträglich in seiner Meinung von dir. Dann wirst du doch genau der Versager, den er in dir gesehen hat. Und außerdem, wenn du jetzt deinen Abschluss so hinkriegst, dass du weiter zur Schule gehen kannst in Richtung Abi, dann kannst du doch auch noch im übernächsten Jahr nach Kanada gehen, wenn du es dann noch willst.«
Hieronymus merkte nach diesen spontan und drängend geäußerten Einwänden, wie ihm der Schweiß auszubrechen begann, während Max offenbar ins Grübeln geriet. Und er bemerkte plötzlich die Uhr an Max´ Handgelenk. Leider kannte er sich ja nicht so aus - die digitale Welt war ihm nicht nur relativ fremd, sie war ihm bislang vor allem auch ziemlich suspekt geblieben, aber offenbar trug Max neuerdings eine von diesen neumodischen »smarten« Uhren. Eine von der Sorte, die unter anderem als Bildschirm für ein mit ihr gekoppeltes Smartphone dienen konnte. Sieh an, dachte Hieronymus, neues Smartphone und smarte Uhr - der Junge ist zu Geld gekommen! Hatte es das Erbe denn schon gegeben?
Während Max offenbar immer noch über das nachdachte, was Hieronymus gerade eingeworfen hatte, denn er sagte nichts, beschlich Hieronymus langsam ein Verdacht. Gerade erst vor einigen Tagen, wie es ihm vorkam, hatte ihm Helene bei einem ihrer abendlichen gemeinsamen Essen - es musste heute vor einer Woche bei Nikos, dem Griechen, gewesen sein -, dass sie jetzt in Erfahrung gebracht hätten, welche Gegenstände der Mausmann bei seiner Ermordung wahrscheinlich bei sich gehabt hatte, die ihm gestohlen worden waren. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte Helene gesagt, dass sie von einer Sekretärin in der Schulbehörde diesen Hinweis, mit was Mausmann dort gewöhnlich aufgetreten war, bekommen hatten. Dazu gehörten doch auch ein Smartphone und eine solche Uhr! Wenn er doch jetzt wüsste, von welcher Firma die entsprechenden Geräte sind! Schockiert, wie er jetzt ob seiner plötzlichen Erkenntnis war, versuchte Hieronymus dennoch Max weiter auf den »Pfad der Tugend«, also den regelmäßigen Schulbesuch, zurück zu locken. Jetzt mit der Methode der »positiven Bestärkung«:
»Was hattest du dir denn vorgenommen zu studieren, wenn es dann `mal soweit ist? Weißt du das schon?« »Kommunikationswissenschaft und Soziologie«, bekam er zur Antwort. »Ich möchte Journalist werden.«
Genau in diese »Kerbe« musste er jetzt einschlagen, dachte Hieronymus und versuchte gleichzeitig, den Verdacht gegen Max, der in ihm aufgekommen war, in den Hintergrund seines Denkens zu verschieben.
»Na prima, und dafür brauchst du erstmal Abitur, und ich sehe überhaupt kein Problem darin, dass du das schaffen kannst. Allerdings müsstest du dafür sofort wieder zur Schule kommen und weitermachen.«
Ein Blick von Max, der ihm zeigte, dass er ihn schon fast überzeugt hatte, veranlasste Hieronymus zu einem letzten, die Sache abschließenden Argument mit der Funktion eines Türabschließens, um den Schlüssel dann wegzuwerfen:
»Und ab jetzt lernst du ja wirklich nur für dich, nur deinetwegen. Der große Antreiber ist ja nicht mehr da, niemand mehr, der dir sagt, du sollst, du musst (auf diese Klimax war Hieronymus später richtig ein wenig stolz)!« Damit hatte Hieronymus Max anscheinend erst einmal soweit überredet, denn der antwortete zwar ohne Enthusiasmus, aber doch mit fester Stimme:
»Ja gut, am Montag bin ich wieder da. Aber über das Austauschjahr nach der Elften reden wir nochmal, ja? Da könnte ich wahrscheinlich Ihre Hilfe brauchen. Auch gegenüber meiner Mutter, denn die hält viel von Ihnen und Ihrer Meinung.«
»In Ordnung, abgemacht!«, erwiderte Hieronymus, streckte seine Hand über den Tisch, in die Max auch sogleich einschlug, und dachte dabei, dass er beim Gehen noch unauffällig auf Max´ Füße sehen sollte, um abzuschätzen, welche Schuhgröße der wohl hatte.
»Noch `was«, begann er sein letztes Thema. »Dass man dich eine Woche lang telefonisch nicht erreichen kann, geht auch gar nicht.«
»Hier geht eigentlich nie jemand `ran«, räumte Max ein und zeigte auf das altertümliche Festnetztelefon mit Wählscheibe in der Ecke der Küche hinter sich. »Das benutzen wir immer nur für Anrufe, um Mobilfunkgebühren zu sparen. Und ich hab´ ein neues Telefon.«
Er hob das Smartphone vom Tisch und hielt es hoch. Hieronymus konnte dadurch die Rückseite des Gerätes und damit das Markenlogo eines angebissenen Apfels sehen.
»Ich geb´ Ihnen am Montag meine neue Nummer und sag´ im Sekretariat Bescheid«, versprach Max noch, und damit war für Hieronymus der Hausbesuch beendet.
Tatsächlich gelang ihm beim kurzen Abschied an der Wohnungstür noch ein unauffälliger Blick auf Max´ Füße, indem er suchend auf seine Jacketttaschen klopfte und auf diese Weise so tat, als suche er nach seinem Autoschlüssel. Dabei blickte er mit scheinbar nach innen gekehrtem Blick nach unten, während ihm Max erneut versicherte, dass er ab Montag wieder regelmäßig zur Schule kommen werde. Hieronymus musste feststellen, dass Max für einen Jungen in seinem Alter auffallend kleine Füße hatte - das mochte vielleicht Schuhgröße achtunddreißig sein!
4.
Der Tag würde noch lang werden für Hieronymus. Deswegen besorgte er sich erst einmal etwas zu essen, nachdem er nach seinem Besuch bei Max endlich (Staus!) in der Schule angekommen war. Im Eingangsbereich zur PMH, der Pausen- beziehungsweise Mehrzweckhalle, befand sich ein Kiosk, in dem ein kleiner rundlicher und älterer Mensch auch belegte Brötchen verkaufte. Genau genommen war »rundlich« stark untertrieben, denn der Herr Moustafi sah so aus, als sei er selbst der beste Kunde seines Angebots, das auch Schokoriegel, Kartoffelchips und allerlei süße Getränke umfasste, darunter selbstverständlich auch den berüchtigten »Eistee«, jenes notdürftig getarnte Zuckerwasser. Er war einfach sehr rund und hätte Julius Cäsar wahrscheinlich gefallen können, wenn der wirklich gesagt haben sollte: »Lasst dicke Männer um mich sein«, wie Shakespeare behauptet. Vielleicht war es ja gerade seine Rundlichkeit, Rundheit, ja Kugelgestalt, die Herrn Moustafi so gutmütig, gelassen und freundlich machte, alles Eigenschaften, die den Betreiber eines schulischen Kiosk zu einem Fels in der ihn täglich umtosenden Brandung und damit unverzichtbar machten.
Hieronymus hatte noch eine knappe Viertelstunde Zeit, bevor die Zweite Große Pause begann und er im Anschluss daran Unterricht zu geben hatte. Der Kiosk war zu der Zeit vor der Pause wenig gefragt, und so erstand Hieronymus ein Rundstück, belegt mit einer aufgeschnittenen Frikadelle, Gurkenscheiben und - ganz wichtig - Senf, nicht etwa Ketchup. Mit dieser Beute begab er sich ins Lehrerzimmer, wo er noch warmen Kaffee in der Thermoskanne der Kaffeemaschine vorfand. Nach den folgenden zwei Unterrichtsstunden sollte noch eine Fachkonferenz samt Fachkoordination für ihn folgen, dann wäre er heute mit der Schule schon fertig, und er hatte sich vorgenommen, danach noch einen weiteren Hausbesuch zu machen. Aber bei diesem wäre es ihm sehr recht, dort niemanden anzutreffen.
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