2.
Wenn man mit seinem Wagen im Stau steht oder nur langsam vorwärts kommt, kann man gut Musik hören. Oder seinen Gedanken nachhängen. Zumindest, wenn man sich erst einmal wieder beruhigt und mit dem unnützen Schimpfen aufgehört hat.
Hieronymus tat beides, während er auf dem Weg zu Max war. Einige besondere Ereignisse der letzten Tage fielen ihm ein und präsentierten sich noch einmal, als würden sie erneut geschehen. Aber anders als bei dem Erleben realen Geschehens vermag die Erinnerung viel besser zu filtern und bestimmte Details gleichsam unter eine Lupe zu legen, so dass nicht alles wieder zum Vorschein kommt, aber dafür bestimmte Einzelheiten viel deutlicher hervortreten. Darunter auch solche, die zum Zeitpunkt ihres Auftretens überhaupt nicht auffällig waren, es jetzt in der Erinnerung aber werden und so besser erkennbar sind. Hieronymus hatte auf diese Weise, durch das Grübeln über Geschehenes und Erlebtes, bereits so manches Mal Einsichten und Erkenntnisse gewonnen, die ihm vorher verwehrt geblieben waren. Zumeist waren sie nicht wichtig oder wertvoll, manchmal aber eben doch.
Die so kurzfristig für den Dienstag der vergangenen Woche einberufene Vollversammlung anlässlich des Todes von Schulinspektor Mausmann hatte einzig und allein dem Zweck gedient, dass der Chef, Schulleiter Dr. Peter Zürn, wieder einmal eine seiner berüchtigten Reden vor versammelter Mannschaft hatte halten können. Obwohl den Schülerinnen und Schülern der Jahrgänge Fünf und Sechs dieses Ereignis erspart geblieben war (und damit auch einigen dort in der Zeit gerade Aufsicht führenden Kolleginnen und Kollegen), weil die Pausen- beziehungsweise Mehrzweckhalle der Schule, allgemein nur PMH genannt, gar nicht groß genug für eine tatsächliche Vollversammlung der gesamten Schulgemeinschaft war, war die Halle praktisch aus allen Nähten geplatzt. Außer den eng gestellten Stuhlreihen waren auch die niedrigen Fensterbänke über den Heizkörpern und unterhalb der großen hohen Seitenfenster dicht besetzt gewesen. Trotzdem hatten noch viele Anwesende die Veranstaltung im Stehen über sich ergehen lassen müssen.
Vorne im nördlichen Teil der Halle hatte noch die Aprilsonne des Vormittags ein Stück weit hineingereicht, und irgendetwas hatte das Sonnenlicht dort auf eine Weise reflektiert, dass der Redner hinter seinem Pult auf der durch Holzelemente improvisiert etwas erhöhten Bühne indirekt von unten beleuchtet worden war.
»Der Terror ist hier bei uns eingebrochen!«, hatte Dr. Zürn seine Ansprache begonnen, und die theatralische Dramatik seiner Worte war durch die gespenstisch-diabolische Beleuchtung seines Gesichts wirkungsvoll unterstützt worden. Hieronymus glaubte aber nicht, dass diese Art der Unterstützung geplant und Absicht war, aber offenbar hatte auch niemand die Notwendigkeit gesehen, ihr durch ein kleines Verrücken des Rednerpultes abzuhelfen.
Noch bevor Hieronymus den so dramatischen Beginn der Rede völlig hatte erfassen und auf ihre Plausibilität hin überprüfen können - Terror hier? Wieso? Wo? Wie? - war Dr. Zürn in seinen Ausführungen bereits fortgefahren:
»Auf brutalst mögliche Weise ist gestern jemand aus der schulischen Gemeinde aus dem Leben gerissen worden!«
Wenn es seiner Meinung nach darauf ankam, konnte er als Religion Unterrichtender mühelos ein einer Predigt entsprechend drastisches Vokabular aktivieren.
»Aber nicht nur das, denn dieser Mensch war nicht nur ein beliebiger Jemand, sondern er war mir mehr als nur ein Kollege, er war mir ein Freund!«
Offenbar hatte dieser Hinweis den Tod des Betreffenden noch schlimmer machen sollen, aber kann das für den Betreffenden wirklich einen Unterschied machen? Vor allem die Schülerinnen und Schüler, aber auch so manche Kollegin und so mancher Kollege hatten sich da wohl gerade gefragt, wer in ihrer Mitte fehlte, und so manche Blicke aus gewendeten Köpfen hatten suchend den Raum durchforstet. Nicht so Hieronymus, der von dem vertrauten Verhältnis zwischen Dr. Zürn und Mausmann ja bereits gewusst hatte und deswegen Gelegenheit gehabt hatte zu bemerken, für wie unangenehm und falsch der »Halbleiter« Rainer Krück (als stellvertretender Schulleiter auch »die Krücke« genannt), der ebenfalls auf der Bühne ein kleines Stück neben und hinter Dr. Zürn gestanden hatte, den Beginn der Rede zu empfinden schien. Die Fortsetzung dieser hatte dann Klarheit gebracht. »Studiendirektor Dr. Peter Mausmann ist gestern ermordet - ja, was sage ich? - hingeschlachtet aufgefunden worden. Ein wertvolles Leben ist somit sinnlos dahingerafft worden; und das ist Terror, nichts anderes als blanker Terror! Und obwohl wir bisher noch nichts wissen über die Mörder, die ich Terroristen nenne,« - interessanterweise ging Dr. Zürn also im Unterschied zur Polizei von mehreren Tätern anstelle eines einzelnen aus - »sage ich doch schon jetzt, hier und heute: wehret den Anfängen! Wenn es dem Terror gelingen sollte, jetzt auch in der Schule, dem Ort humanistischer Bildung und solidarischer Gemeinschaft, fleißiger Arbeit und geselligen Lebens, Fuß zu fassen, dann ist die abendländische Kultur am Ende, dann ist das Abendland am Ende, dann gibt es nur noch Chaos und Auflösung bis zum bitteren Niedergang!« Wirklich starker Tobak, hatte Hieronymus gefunden und während er noch überlegt hatte, inwiefern Mausmanns häuslicher Garagenstellplatz als Schauplatz des Verbrechens zur Schule gehören könnte, war ihm von seinem Sitzplatz in einer der hinteren Reihe aus aufgefallen, dass er viele Handy-Displays vor und um sich hatte aufleuchten sehen. Offenbar hatten viele Schüler die terroristische Bedrohung als doch nicht so gefährlich empfunden wie gerade vom Chef beschworen oder aber sie hatten im Netz nach Informationen zu dem gesucht, was ihnen da gerade nicht gesagt worden war.
Ein Schüler einige Reihen vor Hieronymus hatte sogar gerade einen Anruf auf seinem Gerät angenommen, denn er hatte es sich ans Ohr gehalten und nicht besonders dezent hinein gesprochen. Dieses Gespräch hatte angedauert - offenbar hatte der Angerufene keine Notwendigkeit gesehen, es kurz zu machen oder zu verschieben -, bis eine in der Nähe sitzende Lehrerin den Schüler massiv auf sein Fehlverhalten hingewiesen hatte. Dem unechten Grinsen des Betroffenen, mit dem er sich in seiner direkten Umgebung um Beistand heischend umgesehen hatte, während er sein Handy wieder eingesteckt hatte, hatte Hieronymus entnehmen können, wie »unnötig, höchst unnötig« er die Intervention der Kollegin gefunden hatte.
Während Dr. Zürn seine Ansprache allmählich zu einem Ende gebracht hatte, indem er zu allgemeiner und äußerst umfassender Wachsamkeit aufgerufen und bei dieser passenden Gelegenheit noch einmal für eines seiner bisher noch vergeblich initiierten Lieblingsprojekte geworben hatte, der Installation von Überwachungskameras überall in der Schule (Auch auf den Toiletten? Aber sicher doch, dort könnte man ja sonst unbemerkt Bomben basteln!), hatte Hieronymus herzlich bedauert, nicht gerade stattdessen dem Vize Rainer Krück bei einer seiner launigen Reden zuhören zu dürfen. Aber vielleicht hätte sich das vorliegende Thema ja auch nicht so gut für eine von dessen humorigen Ansprachen geeignet.
Hieronymus reagierte gewöhnlich nahezu allergisch, also sehr empfindlich und persönlich verletzt, auf eine inflationäre oder unsensible Verwendung von Begriffen. Eine solche sah er bei dem Ausdruck »Terror« durch den Chef für einen gewöhnlichen Mord, denn für mehr sprach bisher ja eigentlich nichts. Entsprechend erging es ihm auch mit dem Begriff der »Ermächtigung«, der gerade durch die Medien rauschte. Damit war die Erlaubnis der Bundeskanzlerin gemeint, dass in der deutschen Rechtspflege der Anzeige eines zwar demokratisch gewählten, sich aber nunmehr diktatorisch gebärdenden ausländischen Staatschefs gegen einen Moderator und beruflichen Spaßmacher im deutschen Fernsehen nachgegangen werden konnte, der ein sogenanntes Schmähgedicht über eben jenen Staatschef verfasst und veröffentlicht hatte, das er wohl für lustig halten mochte. Gab es in der deutschen Geschichte nicht einmal ein Gesetz, das so genannt wurde, das »Ermächtigungsgesetz«? Und war dieses Gesetz damals nicht ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg Deutschlands in eine Diktatur gewesen? Und nun sollte eine »Ermächtigung« des deutschen Regierungsoberhaupts einem ausländischen Staatsoberhaupt dabei behilflich sein, sein Land weiter zu einer Diktatur auszubauen mit ihm selbst als Diktator an der Spitze? Hieronymus empfand nicht nur die sprachliche Komponente dieses Vorgangs als pikant und politisch wenig sensibel.
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