Dortmund, 30.Dezember 1914
Sehr geehrter Herr Spitteler!
Als Drucksache übersende ich Ihnen einen Aufsatz der Dortmunder Zeitung, der Ihre Rede in Zürich kritisiert. Da wir Deutschen Ihre geistige Bedeutung von je her gewürdigt haben, beschäftigt uns umso lebhafter die Frage, wie ein Mann Ihrer Art sich so schroff auf die Seite der Gegner stellen kann. Für diese Gegner, ihre Zahl und ihre Motive, haben wir nur das Gefühl unsäglicher Verachtung, das heißt für die Drahtzieher ihrer heutigen Politik. Wenn wir untergehen sollten, was ich nicht fürchte, so werden wir mit dem Hohnlachen der primanen Sagen fallen, und der Feuerbrand, in dem die germanische Welt versinkt, soll gewaltiger aufkommen als die Glut der Hölle. Das alte Deutschland der Gefühlsduselei – das so bequeme, das sich die Fetzen vom Leibe reisen ließ – die Schweiz und Burgund und Brabant und Flandern gehören ja, glaube ich auch dazu – das alte, von Frankreich und dem so lyrisch-gemütstiefen England ach! so zärtlich gepriesenen Deutschland ist – Gott sei Dank! – endgültig und für immer vorbei. Und als unsere Regimenter eisenklirrend über die Grenze Belgiens rückten, da jauchzte das junge Deutschland: Endlich, endlich einmal der Mut zur Tat, zu rücksichtsloser Tat – à cortaire cortaire et demi [franz. „Auf einen Schelmen anderthalbe“ oder freier übersetzt: „Eine List ist der andern wert“ – Anm. d. Verf.]. Der kleinen schwachen Schweiz mag unbehaglich zu Mute sein neben dem deutschen Riesen, der jetzt die halbe Welt in Scherben haut – aber zu fürchten hat sie nichts. Der täppische Riese hat immer noch das alte goldene Kinderherz und tut ohne Not niemanden etwas zu Leide. Wir sind auch nicht ohne Verständnis für die Tragik des belgischen Schicksals und wir preisen mit Schillers Worten immer noch Hettors Los: „der für seine Hausaltare kämpfend, ein Beschirmer, fiel; krönt dem Sieger große Ehre, ehrt ihn das schöne Ziel“.
Aber Belgien ist – dank seiner Lage – nun einmal der Schauplatz aller europäischen Kriege gewesen und wird es bleiben, solange es nicht wieder zum Deutschen Reich gehört. Und gerade heraus: Wenn es für uns um Sein und Nichtsein geht, dann gibt es keine Neutralität – lesen Sie bitte Hugo Grotius, der nicht bloß Dichter, sondern auch ein Meister des Staatsrechts war. Wenn alles, was unseren Geist, unsere Freude, unseren Stolz ausmacht, mit Untergang bedroht wird, dann sollen wir uns geduldig erdrosseln lassen, bloß um ein Stück Papier nicht anzutasten? Wir sind Germanen und Männer und durch eine Meute raubgieriger Hunde, die uns seit Jahren umschleicht, vor die furchtbare Wahl gestellt, Amboss oder Hammer zu sein, wählten wir den Hammer, - und wenn es uns nach Wollen und Wünschen geht, so soll es Thors Hammer, der „Malmer“ sein. Sie haben das treffende Bild von den Haushunden gebraucht, die unbedenklich jeder gegen Einbrecher zu Hilfe ruft. Gestatten Sie mir ein nicht minder treffendes. Ein Mann von 70 Jahren soll kein 20-jähriges Mädchen heiraten – das ist dumm, und wenn er nachher gar selber die Hausfreunde einlädt, so ist es verächtlich. So verächtlich haben sich für alle Zeiten die Franzosen prostituiert, trotzdem sie mit uns ehelichen und dauernden Frieden haben könnten. Trotz all unserer Barbarei haben wir, sehr geehrter Herr Spitteler, immer noch so viel Gemüt, uns in die Seele eines Dichters zu versenken, und so bitte ich Sie: Schreiben Sie mir ein paar Zeilen der Aufklärung. Vielleicht waltet nur ein Missverständnis, und wenn nicht: wir Deutschen lassen uns zwar nicht gern besiegen, aber desto lieber überzeugen.
Mit dem Ausdruck meiner Hochschätzung,
Ihr sehr ergebener Professor
Ob der deutsche Professor je Antwort von Carl Spitteler erhalten hat, konnte ich nicht ermitteln. Hierzu stellte ich eine Anfrage an die Carl-Spitteler-Stiftung in Luzern, die den Nachlass des Nobelpreisträgers, darunter Fotografien aus verschiedenen Zeitabschnitten, Originalmanuskripte, Briefe, Urkunden und weitere Dokumente aufbewahrt und ausstellt. Leider gab es dort keine Hinweise auf eine Antwort Spittelers auf den mir vorliegenden Brief. Eine Kopie des obigen Briefes habe ich am 11.Februar 2017 der Stiftung zur Verfügung gestellt und diese wurde vom Schweizer Archivar dankend zu den Stiftungsdokumenten hinzugefügt.
Wir drehen das Rad der Zeit noch einmal weiter in die Vergangenheit. Es ist Dienstag, der 21.April 1903. Schulanfang am Königlichen Progymnasium zu Deutsch-Eylau im damaligen Westpreußen. Der überschaubare Ort mit seiner alten Ordenskirche, gut 50 Kilometer von Danzig entfernt, hat gut zehn Tausend Einwohner und erst im Jahr zuvor konnte auf Antrag der Bürgerschaft das kleine Gymnasium mit drei Klassen und 50 Schülern seinen Betrieb aufnehmen. Für den Hilfslehrer Dr. Heinrich Schucht ist es das zweite Jahr an der Schule. Mit seiner Frau Wanda und ihrem fünfjährigen Sohn sind sie in das kleine aufstrebende Städchen gezogen. Die vorzügliche Bahnverbindung, günstige Steuerverhältnisse und die herrliche Umgegend mit Wäldern und den fast 60 Seen rund um die Garnisonsstadt gefallen der jungen Familie. In den Kiefernschonungen und den Moorböden der Niederungen kann Heinrich Schucht bei ausgiebigen Spaziergängen seine botanische Sammlung vervollständigen.
Die vielen fruchtbaren Ablagerungen von Mergelboden des Umlandes eignen sich gut für den weit verbreiteten Ackerbau in dieser Gegend. Der leicht gewellte Boden, die sandigen mit Wald bestandenen Höhen und die flachen von Feldern eingenommenen Gebiete laden zum wandern ein. Der Raudnitzer Wald, daran anschließend der Schönberger Forst, der Finckensteiner Wald und viele weitere Forsten bilden einen Komplex von über 25 Tausend Hektar. In den tiefen Stellen des Geländes liegen breite und flache Seen, der größte davon ist der 34 Kilometer lange Geserichsee. Heinrich Schucht genießt mit seiner Frau Wanda die landschaftliche Schönheit, hat aber die Wahl seines Arbeitsplatzes auch davon abhängig gemacht, dass sich an einer kleinen Schule seine weitere Karriere positiv gestalten kann, was sich auch bald bestätigt. So wird er gleich im ersten Jahr zum Oberlehrer befördert und ihm kurz darauf die zweite Oberlehrerstelle am Gymnasium verliehen.
Heinrich Schucht sieht an diesem ersten Schultag des Jahres 1903 aus dem Fenster in den kleinen Schulhof hinunter. Es ist herrliches Wetter und die Schüler spielen während der Pause abwechselnd Cricket, Fußball oder Schleuderball. Das Progymnasium hat sich gut entwickelt. 86 Schüler sind für dieses Schuljahr angemeldet. Oberlehrer Ganske, der Leiter des Königlichen Progymnasiums, hat Heinrich Schucht als Klassenleiter für die Sexta, eine 5.Klasse, vorgesehen. Seine Lehrzeit steigt von wöchentlich 22 auf 26 Unterichtsstunden: In seiner Sexta hält er fünf Stunden Deutsch, acht Stunden Latein und zwei Stunden Erdkunde, in der Quinta, Quarta und der Untertertia, der 6. bis 8.Klasse, ist er noch zusätzlich für vier Stunden Rechnen und sieben Stunden Mathematik eingeteilt. Heinrich Schucht sieht noch einmal in den neuen Lehrplan für das Schuljahr 1903/1904, obwohl er diesen bereits während der Ferien gründlich studiert hat. In Deutsch liegt in diesem Jahr der Schwerpunkt auf Grammatik und Geschichtserzählungen. Zudem müssen den Schülern Deklination und Konjugation, sowie die Lehre vom einfachen Satze und der dafür erforderlichen Zeichensetzung vermittelt werden. Es sollen hierzu Rechtschreibeübungen in wöchentlichen Diktaten durchgeführt werden. Aber auch das Lesen von Gedichten, Fabeln, Erzählungen und vaterländischen Sagen soll einen Schwerpunkt im Deutschunterricht bilden. Darauf freut sich der belesene Heinrich Schucht besonders, liebt er doch das Erklären der Texte und die anschließende Diskussion mit seinen Schülern. Die Lektüre wird für dieses Jahr im Lehrplan vorgegeben: „Barbarossa“ von Rückert, „Die Wacht am Rhein“ von Schneckenburger und „Des Knaben Berglied“ von Uhland sind darunter. In Erdkunde hat Oberlehrer Schucht die Grundbegriffe der allgemeinen Erdkunde zum Verständnis des Globus und von Landkarten zu vermitteln. Dann folgt die Länderkunde, die mit der deutschen Heimat beginnt und dann mit Europa fortgesetzt wird. In Latein ist für dieses Jahr Ostermanns Lateinisches Lese- und Übungsbuch vorgegeben. Die Leseabschnitte sollen im Unterricht unter Anleitung des Lehrers übersetzt und dann zunehmend die Selbstständigkeit der Schüler beim Übersetzen in Anspruch genommen werden. Wöchentlich wird hierfür eine halbstündige Klassenarbeit zum Lesestoff durchgeführt. Insbesondere die alten Sprachen Lateinisch und Griechisch, als auch die modernen Sprachen Englisch und Französisch sind Heinrich Schuchts Leidenschaft. In Latein hat er 1898 zum Doktor der Philosophie promoviert.
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