Seine Tochter Urte, Jahrgang 1923, ist erfreulicherweise also noch am Leben und konnte mir mit einer für das Alter erstaunlichen Rüstigkeit bei meinen Nachforschungen weiterhelfen. „Urte“ – ich muss mich doch noch einmal über den Vornamen informieren und finde heraus, dass er dem baltischen Sprachgebrauch entstammt und „Die mit dem Schwert Vertraute“ bedeutet. Am 11.Januar 2017 erhalte ich am Abend einen Anruf von Frau Thomaschki. Sie hat meinen Brief mit der Kopie der Fotopostkarte erhalten. Ich habe wegen ihres schlechten Augenlichts alles in sehr großen Lettern geschrieben und die Fotokarte auf DINA4-Format vergrößert. Sie hat sich sehr darüber gefreut und bedankt sich mehrfach.

Unermüdlich schippen die Kanoniere den Sand zur Seite, um die Telefonleitung zu legen. Der neue Beobachtungsstand auf der Düne liegt nur 200 Meter vom Schützengraben des Feindes entfernt und mit dem Scherenfernrohr hat man von dort einen großartigen Blick auf das Gewirr der feindlichen Stellungen, Schanzen und Gräben. Von der Beobachtung aus muss nun eine mehrere Kilometer lange rückwärtige Telefonverbindung geschaffen werden. Es ist stockdunkel und links und rechts von den Soldaten krepieren immer wieder Granaten, doch unbeirrt schuften die Männer weiter. Am Fuß der Düne wird der Boden lehmig bis sumpfig und ist von dürren Büschen durchsetzt. Eine unendliche Plagerei ist es dort zu graben. Zumindest ist das Wetter etwas besser geworden und es hat aufgehört zu regnen. Die letzten Tage mussten die Männer unter freien Himmel ausharren, gestern konnten Sie am Fuß der Düne endlich einen bombensicheren Unterstand errichten, indem Sie nun auch schlafen können. Ab und zu holt einer der jungen Soldaten eine feldgrau lackierte Taschenlampe aus der Jacke und leuchtet kurz den Weg, um dann wieder weiter zu graben. Das neue Taschenlampen-Modell mit Abblendvorrichtung und Schraube zum Andrehen ist wesentlich praktischer als das mit dem Knopf zum Einschalten, welches ihm in der Jackentasche ständig von selbst angegangen ist. Als der Morgen graut, schleppen sich die Kanoniere an den Minenwerferstellungen vorbei zu ihrem Unterstand und sinken todmüde auf die Strohsäcke. An den Donner der Geschütze sind sie bereits gewöhnt und fallen trotz der zahlreichen Granateinschläge und dem Rattern der Maschinengewehre in einen tiefen Schlaf. Morgen ist Ablösung und endlich hat die Schufterei, zumindest für einige Tage, ein Ende.
Am nächsten Morgen zündet einer der Soldaten eine Kerze im Unterstand an und schiebt die leichten Lederschuhe von den Füßen. Die völlig verdreckte Wäsche packt er in einen Sack und zieht sich die lehmigen Stiefel an. Jeden Moment erwartet er die Ablösung und er muss dringend einige Kilometer zurück zur Batterie, um beim Marketender etwas einzukaufen, die Wäsche abzugeben und nach Post zu sehen. Die Feldpostkarte, die er vor einigen Tagen begonnen hatte, steckt immer noch unvollendet in der Jackentasche. Auch ans fotografieren war überhaupt nicht zu denken und den Apparat hat er gleich im Unterstand zurückgelassen. In der Batterie sind bestimmte Lebensmittel noch günstig zu bekommen: Bevor er die Feldpostkarte hastig fertig schreibt und dem Postboten, der gerade die Post verteilt, in die Hände drückt, kauft er sich drei Eier zum Stückpreis von 8 Pfennige, einen Liter Milch zu 16 Pfennige und ein halbes Pfund Butter für eine Mark. Auch für ihn sind heute ein großes Paket und ein Brief aus der Heimat dabei, welche er sogleich erwartungsvoll öffnet. Die Eltern haben an alles gedacht: etwas Käse, Wurst und zwei Fischdosen holt er heraus. Die Zigaretten und Zigarren haben auf dem Transport sehr gelitten und sind ziemlich plattgedrückt. Schon mehrmals hat er nach Hause geschrieben, die Waren doch besser zu verpacken. Die drei Kerzen, welche unversehrt im Paket liegen, kann er dringend gebrauchen, da sie hier kaum zu bekommen sind. Ein kleines Büchlein, eine Kriminalhumoreske, löst bei ihm nicht gerade Begeisterung aus. Der Brief mit den Neuigkeiten aus der Heimat, die der junge Kanonier sofort liest, enthält erfreulicherweise noch zwei Mark Taschengeld vom Vater. Die nächsten Tage in Ruhe will der sportliche junge Mann mit Lesen und trotz der zurückliegenden anstrengenden Tage mit Aktivitäten wie Reiten und Fußballspielen verbringen.
Seine eilig abgeschickte Feldpostkarte wird einige Tage später seine Eltern erreichen, die sich wegen ausbleibender Post ihres Sohnes schon Sorgen gemacht haben und sehnsüchtig auf Nachricht warten.
9.Juli 1915, Pierre Kapelle
Liebe Eltern!
Auf Lektüre warte ich mit Schmerzen. Ich möchte auch meinen alten Wunsch zum 1000ten Male wiederholen, mir einen Kriminalroman zu schicken. Es gibt doch diese Serien à einer Mark, zum Beispiel Lux oder irgendeine andere. Wenn er auch von Conan Doyle ist, so einen möchte ich sogar am liebsten. Tut mir doch den Gefallen. Stattdessen bekomme ich immer diesen Blödsinn von Reclam: Kriminalhumoresken, etc. Sonst gibt es nichts Neues zu vermelden. Mit Kriegsgruß, euer Wolf.
Der Absender der Feldpostkarte schreibt aus St. Pierre Kapelle, in der Nähe der kleinen belgischen Stadt Dixmuiden in Wesflandern, welche ungefähr zehn Kilometer vom Ärmelkanal entfernt liegt. Als im Oktober 1914 die ersten deutschen Truppen auf ihrem Vormarsch Dixmuiden erreichen, wird von den Belgiern durch Öffnen der Schleusen des Flusses Yser die Region komplett geflutet. Die ganze Ebene, welche bei Flut unter dem Meeresspiegel liegt, verschlammt völlig. Der deutsche Vormarsch kommt in der „Schlacht an der Yser“ zum stehen und der Bewegungskrieg entwickelt sich zum Grabenkrieg. Ende April 1915 werden durch deutsche Batterien zum ersten Mal in großer Anzahl Giftgasgranaten verschossen, um den Widerstand des Gegners vor der Stadt Ypern zu brechen. Tausende Engländer und Franzosen verlieren Ihr Leben oder werden durch die umherziehenden Giftgasschwaden schwer verletzt. Zu einem entscheidenden Durchbruch kommt es aber nicht und der Frontverlauf stabilisiert sich wieder. Gut zwei Monate später, im Juli 1915, ist St. Pierre Kapelle Sitz einer Batterie-Stellung der schweren Korpsartillerie des deutschen Marinekorps.
Der Absender der zitierten Feldpostkarte, der sich „Wolf“ nennt, ist Kanonier in seiner Batterie und bittet seine Eltern um Zusendung von Kriminalromanen. Der Stellungskrieg bietet in den Erdbunkern zu den dienstfreien Zeiten oder im Ruhequartier weiter hinter der Front hin und wieder die Möglichkeit bei teilweise elektrischem Licht oder Kerzenschein ein gutes Buch zu lesen. Dabei bevorzugt „Wolf“ ausdrücklich die Werke des englischen Arztes und Schriftstellers Arthur Conan Doyle. Sicher ein Name, der durch die weltweit erfolgreiche Kriminalserie des Sherlock Holmes jedem geläufig ist. Der Name des englischen Schriftstellers steht also vor mehr als 100 Jahren auf einer in Belgien abgeschickten Feldpostkarte eines deutschen Soldaten. Eine seltsame Kombination, wie ich finde und möchte die näheren Umstände verstehen.
Arthur Conan Doyle, der am 22.Mai 1859 in Edinburgh geboren wurde, veröffentlicht ab 1887 die Geschichten des Detektivs Sherlock Holmes und seines Freundes Dr. Watson. 1903 erscheint sein größter Erfolg aus der Detektivserie, „Der Hund von Baskerville“. 1912 erschafft er mit dem Roman „Professor Challenger – Die vergessene Welt“ neben der Sherlock Holmes-Serie einen weiteren großen Erfolgsroman. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt und erfreuen sich auch in Deutschland großer Beliebtheit. Im Deutschen Reich wird England während des Krieges als Hauptschuldiger für den Ausbruch des Weltkrieges angesehen. Die deutsche Propaganda mit Parolen wie „Gott strafe England“ oder auf englischer Seite veröffentlichte „Greueltaten der deutschen Hunnen“, schüren den Haß der beiden Völker aufeinander. Romane englischer Schriftsteller sind zwar während des Krieges im Deutschen Reich und an der Front nicht verboten, aber zumindest unstatthaft. Sicher ein Grund, weshalb der Kanonier seine Eltern mehrfach auffordern mußte, doch endlich Conan Doyle-Romane zu besorgen, was aus seiner Wortwahl „Wenn er auch von Conan Doyle ist…“ entnommen werden kann. Ob er sie wohl erhalten hat?
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