„Wie laufen eure Klavierstunden?“, fragte Vater, weil mal wieder keiner den Mund aufmachte, um sich zu unterhalten. Er hatte eine Narbe an seinem Kinn, die frisch war. „Kommt ihr gut voran?“
Katharina und ich nickten nur als Antwort. Es fiel uns oft schwer, so zu tun, als sei alles in Ordnung und ich war mir sicher Vater und Mutter merkten das. Unsere Situation war zu ungeklärt und wir vermissten unser altes, fröhliches Leben, indem wir rausgehen durften und mit Freunden spielten oder sie zu uns kamen. Es war nun mal einsam in diesem großen Haus.
„Anne hat ein neues Stück gelernt“, erzählte meine Mutter und lächelte Vater zu. „Sie beherrscht es perfekt.“
Mein Vater sah stolz zu mir herüber. „Das freut mich sehr, mein Kind. Spiel es mir nach dem Essen vor. Ich muss es unbedingt hören.“
Ich sah auf meinen Teller, während ich in meinen Kartoffeln herumstocherte. „So gut kann ich es noch nicht. Ich verspiele mich oft.“
„Das kann ich gar nicht glauben“, erwiderte mein Vater und versuchte den Eindruck zu erwecken, dass wir eine normale, glückliche Familie seien. „Du und deine Schwester, ihr seid beide Naturtalente.“
„Es wird sowieso nie jemand hören“, murmelte ich leise, worauf Katharina immer tiefer in ihren Stuhl rutsche.
„Wie bitte?“ Vaters Lächeln wirkte eingefroren.
„Ich habe nur etwas Unwichtiges vor mich hingemurmelt.“
Mutter sah mich auch schon unsicher an, denn sie wusste, wie empfindlich mein Vater werden konnte, wenn man unser Familienleben in Frage stellte. Sei es auch nur solch eine unwichtige Aussage.
„Wiederhol‘ es“, sagte er in einem ernsteren, aber dennoch ruhigen Ton.
Ich schüttelte ängstlich den Kopf und eine noch schrecklichere Stille trat ein. Wir hörten die große Uhr über dem Kamin ticken und sahen die Kerzen flackern. Ich wartete auf Vaters Wutausbruch, das kannten wir schon. Vater hielt es nicht lange aus, bevor er platzte.
„Anne, ich möchte, dass du dich wiederholst.“
Ein Druck bildete sich in meinem Hals und ich öffnete langsam den Mund. „Es wird … Es wird nie jemand hören.“
Vater schwieg für ein paar Sekunden und ich spürte seinen starren Blick auf mir. Es dauerte nicht mehr lange, dann wurde er auch schon lauter brüllte, dass ich gefälligst nicht so denken sollte und ich nicht verstand, wie gut wir es hier hatten. Die Welt da draußen sei schlecht und hier sind wir sicher, sagte er immer. Er bot uns alles und wir würden es nicht schätzen. Aber ich wusste, dass es die Wahrheit war, wenn ich sagte, dass mich nie jemand anders Klavier spielen hören würde, denn bevor das möglich sein würde, wären wir entweder alle tot oder auf ewig hier eingesperrt. Mein Vater würde niemals jemanden an uns ranlassen.
Noch bevor er etwas sagen konnte, hörten wir ein komisches Geräusch und alle schwangen ihre Köpfe zur Eingangstür. Es hörte sich an, als würde etwas oder jemand über unseren hölzernen Terrassenbelag laufen.
Niemand lief so spät abends über unsere Veranda, auch niemand, der uns besuchen wollen würde.
„Geht auf eure Zimmer“, befahl Vater und stand mit dem Blick zur Tür auf. Weil wir alle wie festgenagelt auf den Stühlen saßen, wurde er lauter. „Los, sofort auf eure Zimmer!“
Mutter stand auf und unsere Dienstmädchen kamen ängstlich angelaufen, als Mutter mit uns zu den Treppen huschte. „Habt keine Angst“, flüsterte Mutter uns zu, als Katharina schon die Treppen hochging und sie zur Haustür schaute. „Ihr wisst, was ihr tun müsst, ja?“
Ich nickte und folgte Katharina die Treppen nach oben. Ohne Worte ging sie in ihr Zimmer und ich in mein Zimmer. Ich nahm mir mein liebstes Haarband vom Nachtisch und öffnete meine Schranktür, um mich hineinzusetzen. Verstecken und abwarten, was passierte, so hieß es, wenn Geräusche zu hören waren, die wir nicht zuordnen konnten. Auf keinen Fall herauskommen und sich zu erkennen geben, das war wichtig. Noch nie ist etwas passiert, weswegen meine Angst mit jeder Sekunde weniger wurde, während ich mein dunkelrotes Haarband um meinen blonden Dutt band.
Doch dann kam sie wie eine Flutwelle, als ich Schüsse und lautes Geschrei hörte.
Ich kreischte vor Schreck leise auf und presste mich gegen die Rückwand des Schranks, drückte meine Knie enger an meine Brust. Es war klar, dass mehrere Leute in unser Haus gestürmt kamen. Ich konnte nicht ausmachen, wie viele es waren, aber es klangen etliche Stimmen zu mir herauf.
Sachen zerbrachen. Türen wurden auf- und zugeschmissen. Unsere Dienstmädchen kreischten.
Die Eindringlinge schrien auf Englisch, aber in meinem Schrank sitzend, konnte ich die Worte nicht verstehen.
Mein Herz pochte so wild wie noch nie, ich hörte ein lautes Rauschen in meinen Ohren, es übertönte beinahe die Stimmen von unten. Mein Atem ging schnell, als Schritte die Treppe hochrannten. Ich dachte daran, was gleich passieren würde und malte mir schon die schlimmsten Szenarien aus, als sie oben ankamen.
Und dann dachte ich an Katharina. Sie saß genauso wie ich in ihrem Zimmer und versteckte sich im Schrank. Sie musste eine unheimliche Angst haben und ich konnte nicht für sie da sein. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und zu ihr gerannt, doch das war uns strengstens verboten. Ich war wie versteinert und betete leise, dass sie uns nicht fänden.
Ich zuckte zusammen, kniff die Augen zu, als meine Zimmertür mit einem lauten Knall aufgeschmissen wurde. Sie sollten uns nichts tun, sie sollten uns nichts tun, bitte …
„Hier ist auch niemand!“, rief eine männliche Stimme und ich hörte, dass zwei weitere Personen mein Zimmer betraten. Sie waren Amerikaner, ich konnte es an ihrer Aussprache hören.
Schritte liefen langsam durch mein Zimmer. „Typisch deutsches Mädchenzimmer. Sieh dir die vielen Bücher an.“
„Ja“, sagte einer und ich hörte, wie mein Bücherregal aggressiv ausgeleert wurde. „So ein Dreck gehört verbrannt. Wenn ich diese Sprache schon sehe, wird mir ganz schlecht.“
Vom anderen Zimmer rief jemand, weswegen zwei Leute fluchend aus dem Raum gingen.
Weil ich spürte, wie ich vor Panik begann zu wimmern, hielt ich mir die Hand vor den Mund und betete immer weiter, als ich wieder langsame, schwere Schritte in meinem Zimmer hörte. Sie stoppten vor meinem Bücherregal und dann an meinem Schreibtisch.
Ich verbat mir zu denken, dass Mutter und Vater tot sein könnten.
Die Schritte kamen meinem Schrank immer näher und mit jedem Schritt raste mein Herz wilder.
Noch ein Schritt.
Noch einer …
Dann stand dieser Jemand genau vor meinem Versteck und ich spürte, wie mir eine Träne über die Wange rang.
Bitte, er sollte einfach weggehen. Ich betete so innig wie noch nie.
Aber meine Hoffnung starb, als die Schranktür aufgezogen wurde.
Mit angehaltenem Atem und schmerzhafter Furcht in der Brust hielt ich meinen Kopf nach unten und presste zitternd meine Beine enger an mich, um mich kleiner zu machen. Ich wollte unsichtbar werden, auch wenn ich wusste, dass es zwecklos war. Er würde mich sehen und er würde mir wehtun.
Es vergingen ein paar Sekunden, in denen nichts passierte. Er starrte mich nur an. Ich roch Rauch.
Doch dann hörte ich, wie er sich bewegte und etwas nach mir ausstreckte. Ich kniff weiterhin die Augen zusammen und zuckte zusammen, als ich etwas Kaltes, Metallisches an meinem Kinn spürte. Mein Gesicht wurde langsam angehoben und ich spürte, wie tränennass meine Wangen waren. Ich hatte solche Angst, es war unmöglich es zu beschreiben, als mir klar wurde, dass dieses kalte Etwas eine Schusswaffe war, als ich die Augen langsam öffnete.
Ich sah an der Jacke des Mannes nach oben in sein Gesicht und er blickte direkt in meines. Durch die tiefe Falte, die sich zwischen seinen Brauen bildete, erkannte ich, dass er überlegte, ob er mich erschießen sollte.
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