Sie wand ihren Blick von mir ab und ihr verärgerter Ausdruck wurde durch einen unsicheren ausgetauscht. Da war die kleine Annemarie also wieder, so schnell verging ihre temperamentvolle Seite. Ein Wunder, dass sie sich tatsächlich getraut hatte, mich anzubrüllen.
„Wir laufen das Tempo, das ich vorgebe“, raunte ich zu ihr, als wäre sie gar nichts für mich. Als wäre sie nur eine unwichtige Person in meinem Trupp. Ich begann wieder in Richtung des Waldendes zu laufen, ignorierte ihre traurige Miene. „Gewöhn dich besser daran. Hier gibt es keine Rücksicht mehr.“
„Du hast ihn einfach erschossen.“
Und zum dritten Mal blieb ich ihretwegen auf der Stelle stehen, rümpfte die Nase.
Annemarie klang unglaublich erschöpft, als sie fortfuhr: „Du hättest ihn am Leben lassen können, er sagte, er würde uns nicht verraten … Aber du hast ihn einfach erschossen, als … Als wäre es dir vollkommen egal.“
Jetzt drehte ich mich auch zum dritten Mal zu ihr um, blickte geradewegs amüsiert in ihre Augen, die auch noch in der tiefen Dunkelheit blau leuchteten. „Versuchst du mir ein schlechtes Gewissen einzureden?“
Sie neigte ihren Kopf leicht und sah mich fragend an. „Ist das denn überhaupt möglich?“
Ich empfand es als mutig mich so etwas zu fragen. Überhaupt dachte ich, dass Annemarie gerade sehr waghalsig war, dafür, dass sie theoretisch meine Gefangene und ich ihr Feind war.
Dennoch ging ich nicht auf ihre Frage ein und meinte stattdessen: „Du hast doch keine Ahnung, was all das hier überhaupt bedeutet und wie es funktioniert.“ Ich lachte auf. „Du denkst, er hätte uns nicht verraten?“ Und drehte mich wieder von ihr weg, um endlich am Waldrand anzukommen. „O, Annemarie. Deine Märchen existieren nicht mehr.“
„Das weißt du nicht!“, sagte sie und ich hörte, wie sie mir mit kleinen Schritten folgte. „Er war noch so jung und hatte unheimliche Angst! Glaubst du denn nicht, dass es manchmal besser ist zu vertrauen, auch wenn er ein Deutscher war?“
„Nein“, antwortete ich überzeugt. „Das denke ich nicht.“
„Aber wieso?“ Gott, sie sollte endlich ihren Mund halten. „Wieso musstest du ihn erschießen? Es ist …“
Genau jetzt platzte mir der Kragen. Wie vom Blitz getroffen blieb ich schon zum vierten Mal stehen, drehte mich zu ihr und zeigte mit dem Finger auf sie, während ich zwei drohende Schritte näherkam. „ Deinet wegen!“, presste ich vor Wut kochend zwischen meinen Zähnen hervor, worauf sie sofort einknickte und rückwärtslief. „Wieso frage ich dich denn nicht, weshalb du unbedingt schreien musstest?“ Ich sollte sie lieber nicht so anknurren, aber auch ich hatte eine nervliche Grenze und gemischt mit meinem physischen Schmerz, war das keine gute Mischung. „Was dachtest du würde passieren, nachdem du die Aufmerksamkeit des kleinen Nazis erweckt hast? Dachtest du, er würde dich vor mir retten, mich einfach zurücklassen und alles hätte ein Ende? Gott verdammt, er hätte mich erschossen, genauso wie er jeden anderen Amerikaner erschießen würde!“
Annemarie starrte mich einfach nur perplex an, bewegte sich keinen Millimeter mehr, weswegen ich nun wirklich ein schlechtes Gewissen bekam, weil ich ihr gegenüber so laut wurde. I ch war immens sauer.
„Das ist es, was hier passiert, Annemarie!“, redete ich weiter. „Wenn ich ihn nicht erschossen hätte, wäre es andersrum gewesen. Und ich sterbe nicht wegen einem Mädchen hier draußen, die denkt, dass ihre ihr Retter ein verdammtes Hakenkreuz auf seinem Abzeichen trägt!“
Sekunden der Stille vergingen, in der wir uns stillschweigend in die Augen sahen und niemand den Blickkontakt unterbrach. Sie versuchte meine Worte zu kapieren und ich versuchte runter zu kommen, auch wenn es mir nur mäßig gelang. Das Blut kochte weiterhin wild in meinen Venen und ihre blauen Augen machten es nicht besser.
Irgendwann sagte sie: „Du hältst es mir vor, geschrien zu haben?“ Langsam schüttelte sie den
Kopf, als könnte sie mich nicht verstehen. „Ich bin Gefangene einer amerikanischen Kriegstruppe, John … Ich würde alles dafür tun, um frei zu sein.“
Meine Stirn verkrampfte sich und ich mochte es nicht, wie sie mit mir sprach. Ich war der erste, der wegschaute.
„Ich muss jede Minute Angst davor haben, dass mir jemand wehtut oder … jemand Katharina anfasst. Was blieb mir anderes übrig? Für mich ist all das hier grauenvoll.“
Ich blickte auf den, schwarzen Untergrund und versuchte meine Gedanken zu sortieren. „Du hast mein Leben aufs Spiel gesetzt, während ich versuche deins zu retten.“ Ich schaute erneut in ihre blauen Augen. „Ich gebe dir und deiner Schwester mein Brot, ich habe schon am ersten Tag Pattons davon abgehalten dich zu erschießen und ich habe dich aus diesen verdammten Fluten wegen eines nervigen Haarbands gerettet. Nicht zu vergessen, dass Walt dich angefasst hat und ich dir geholfen habe.“
Sie sagte nichts mehr, schluckte nur.
„Und selbst wenn der Deutsche mich nicht erschossen hätte“, wetterte ich weiter, „wärst du weggewesen und ich tot. Major Pattons hätte mich auf der Stelle umgebracht, wenn ich dich verloren hätte.“
Tränen bildeten sich in ihren Augen, während sie den Kopf schüttelte. „Das weißt du nicht“, hauchte sie kläglich.
„Doch, ich weiß es“, erwiderte ich und war überzeugt von dieser Aussage. „Es ist nicht meine Art mich für jedes dahergelaufene Mädchen so derart erbärmlich einzusetzen. Du solltest es zu schätzen lernen.“
Wieder wurde nicht gesprochen, sie ließ ihren Kopf sinken und man konnte ihr die Reue ansehen. Es stellte mich zufrieden, dass sie dran zu knabbern hatte, denn dann fühlte ich mich weniger dumm. Ich konnte nicht glauben, was ich bereits alles für ein deutsches Mädchen getan hatte, als ich es aufzählte. Es gefiel einer Seite meines Ichs nicht, während jedoch die andere Seite in Stolz getränkt war.
Als ich gerade sagen wollte, dass es besser sei weiter zu gehen, kamen plötzlich laute Geräusche von links und ich zog instinktiv meinen Revolver hervor und hielt ihn in diese Richtung.
Ich war bereit abzudrücken, als jemand aus dem Gebüsch gestürzt kam und vor unsere Füße fiel.
Es war Theo der mit Schlamm und Laub beklebt schwer atmete.
„Theo“, hauchte ich entsetzt und steckte sofort meinen Revolver weg. Man sah ihm an, dass er lange gerannt sein musste, so außer Atem wie er war, deswegen versuchte ich ihm aufzuhelfen. Ich merkte, dass es ihm widerstrebte sich von mir helfen zu lassen, doch er war zu geschwächt. „Was ist passiert?“, fragte ich ihn, als er aufrecht stand, ich ihn aber noch immer an den Schultern halten musste. „Wo sind die anderen?“
Theo musste die Augen schließen, um sich beruhigen zu können. Sein Gesicht war schmutzig, ein paar Kratzer zierten seine linke Wange. Schusswunden konnte ich aber, zum Glück, außerhalb seiner Kleidung, nicht erkennen. „Ich weiß es nicht“, erzählte er und sein Gesicht verkrampfte sich, als er heftig nachdachte. „Es … Es waren Deutsche. Sie kamen, es waren so…so viele, sie …“
Weil ich merkte, dass Theo noch zu durcheinander war, um klare Sätze zu sprechen, legte ich ihm meine Hand auf den Hinterkopf und hielt ihn fest. „Beruhige dich, wir müssen erst mal aus diesem Wald verschwinden.“
Er nickte mehrmals und ich sah über ihn hinweg zu Annemarie, die noch total versteift hinter Theo stand und uns anstarrte. Ihre Hände hatte sie fest ineinander verhakt, was mir zeigte, dass sie sich überhaupt nicht mehr gut fühlte.
„Ein ruhiger Platz und Schlaf“, sprach ich, während ich zusah, wie Annemarie ihren Blick auf den Boden richtete. „Das ist es, worum wir uns als nächstes kümmern sollten.“
Wir verließen den Wald, gingen noch ein ganzes Stück, um möglichst sicher zu sein, dass uns der deutsche Trupp nicht mehr zu nahekommen konnte. Theo erklärte mir den kompletten Ablauf des Überfalls. Es muss ein Hinterhalt der Deutschen gewesen sein, doch viele unserer Männer konnten flüchten. Manche wurden erschossen, sagte er, aber konnte mir versichern, dass Annemaries Schwester und James noch lebten. Major Pattons, leider Gottes, auch.
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