Und als der Junge wieder an uns seufzend vorbeisah, ergriff ich meine Chance.
Ich war mir nicht sicher, ob es eine geplante Handlung war oder eher ein Reflex, als ich so laut ich konnte zu kreischen begann, aber ich tat es einfach. Ich wollte frei sein, einfach nur frei sein.
Doch genauso schnell wie ich schrie, wurde mein Schrei auch schon von einer großen, schmutzigen Hand bedeckt und darin erstickt.
John drückte mich gewaltsam an seine Seite und ich versuchte mich vergeblich zu wehren.
Ich hatte keine Chance gegen ihn, er war zu stark, aber ich rief trotzdem gegen seine Hand:
„Hilfe! Bitte! Hier!“
Wie vom Blitz getroffen drehte der deutsche Junge sich zu uns um und sah uns genau an. Er war noch jung, man erkannte es sofort, vielleicht so alt wie ich, weswegen er so überfordert schien, aber ich wusste, er konnte mir helfen. Er hatte immerhin eine Schnellfeuerwaffe um die Schulter hängen.
Auch wenn ich nicht wollte, dass er John erschoss. Er sollte mir einfach nur helfen.
„V-Verdammt!“, fluchte der Junge und zog, als würde er es zum ersten Mal tun, seine Waffe vor seine Brust und schien noch mehr Angst zu haben, als ich. „Wer – Wer seid ihr?“ Er kam uns langsam näher und ich konnte seinen zittrigen Atem hier hinhören, so nervös war er.
John drückte mich noch fester an sich und seine Finger griffen sich mehr in meine Wangen, sodass es schmerzte. Er machte keine Anstalten aufzustehen, er ließ einfach zu, dass der deutsche Soldat seine Taschenlampe hervorziehen konnte, um uns vorsichtig anzuleuchten.
Er leuchtete erst in mein Gesicht, ich sah ihn furchterfüllt und bittend an, dann leuchtete er in Johns Gesicht. Kurz verweilte er in seinem Gesicht, um einen Moment später das Licht auf Johns Brust zu leuchten, auf der sein Abzeichen zu sehen war.
Anschließend schluckte der Junge.
Ich spürte, wie John sich etwas bewegte und merkte dann wie er seinen linken Arm nach oben hielt. Er hielt in seiner Hand seinen geladenen Revolver.
Und mit einem Mal erstarrte der deutsche Soldat und ging angsterfüllt einen halben Schritt zurück, leuchtete dennoch weiterhin in unsere Richtung.
Ich wollte schreien, dass John ihn nicht erschießen sollte, aber mir blieb nichts anderes übrig, außer zu versuchen seine Hand von meinem Gesicht zu entfernen, laut zu wimmern und zu jammern. Johns Griff wurde daraufhin nur noch energischer und schließlich konnte ich mich gar nicht mehr bewegen.
„Schließ die Augen“, sagte John leise und ich wusste, er sagte es nur zu mir. Der deutsche Soldat hatte den Mund geöffnet, sah nur wie ein verlorener Welpe in den Lauf von Johns Revolver.
Ich schüttelte den Kopf und spürte, wie mir eine Träne über die Hand lief. Bitte … er sollte ihn nicht erschießen.
Dem Soldaten konnte man die Panik in den Augen ablesen, als er eingeschüchtert eine Hand hob. „Bitte … Bitte nicht. I-Ich werde dich nicht verraten, bitte …“
„Tu es für dich“, sprach John wieder zu mir und ich verstand, dass ich nicht die Macht hatte, ihn aufzuhalten.
Mir blieb nichts anderes übrig, außer die Augen zu schließen und mein Weinen von seiner Hand ersticken zu lassen.
Ich hörte, wie John nachlud, es machte klick und dann schoss er.
Sofort begann ich zu schluchzen, traute mich keine Sekunde die Augen zu öffnen, als der Ton von einem zu Boden fallenden Körpers, erklang. Genau vor unsere Füße.
John ließ mich los und ich hatte nicht einmal mehr die Kraft vor ihm wegzurennen, das wollte ich auch nicht. Es machte keinen Sinn, er würde mich bekommen. Deswegen zog ich einfach nur meine Beine vor meine Brust und weinte in meine Knie.
Nicht nur wegen der Tatsache, dass dieser junge, deutsche Kerl, der das Leben noch nicht von allen Seiten sehen durfte, getötet worden war, sondern weil all dies tatsächlich passierte. Das hier war kein Traum, ich musste um mein Leben bangen, ich musste Angst um Katharina haben und wir waren mitten im Krieg. Und ja, ich saß neben einem amerikanischen Soldaten, der Mitglied einer Truppe war, die uns gefangen hielt.
John schob seinen Revolver zurück in seine Jacke und stand auf. „Wahrscheinlich haben sie den Schuss gehört. Steh auf.“
John Montgomery
Meine Schritte, die ich durch den Wald hastete, waren zu schnell und zu laut, das wusste ich. Annemarie konnte nicht mithalten, doch das war mir in diesem Moment, in dem es nur um unser Verschwinden ging, egal.
Ich war wütend. Ja, ich war verdammt wütend.
Ich war mir sicher, Annemarie würde nicht mehr versuchen zu den Nazis zu fliehen, denn dass ich einen von ihnen erschießen musste, sollte sie abgeschreckt haben. Sie brachte uns in Schwierigkeiten, besser gesagt mich. Und nun sollte sie auch zusehen, mit mir Schritt zu halten.
Ich schlug einen Ast vor meiner Nase aus dem Weg, als sie sich irgendwann gehetzt zu Wort meldete. „Ich – Ich kann nicht – Könnten wir etwas langsamer werden?“
„Nein“, lautete meine klare Antwort lief weiter geradeaus und konnte schon das Ende des Waldes sehen, hinter dem sich besser keine Deutschen befinden sollten. Es war mitten in der Nacht, stockdunkel, am besten sollte sich absolut niemand dort aufhalten.
„Aber die vielen Sträucher kratzen an meinen Beinen … Bitte!“ Sie klang abgekämpft und ich hörte noch ihren Kloß im Hals heraus, was bedeutete, dass sie entweder weinte oder damit zu tun hatte, das Weinen zu unterdrücken.
Ich konnte verstehen, dass sie Schmerzen hatte, immerhin trug sie nur ein Kleid, aber
Schmerzen hatte ich auch. Mit der Zeit verschwand das Adrenalin in meinem Blut und meine Verletzung an der Hüfte machte sich mit Macht bemerkbar. Sie pochte heftig und ich musste mich setzen oder legen, konnte es mir aber noch lange nicht erlauben. Wir sollten uns so weit wie möglich von dem deutschen Trupp entfernen, egal wie groß unsere Qualen waren.
Außerdem war ich noch zu geladen, um mich normal mit Annemarie unterhalten zu können.
Dann hörte ich nach ein paar Metern wie sie leise schrie und ihr Körper auf dem Waldboden unter uns landete. Sie stöhnte und ich drehte mich zu ihr um, sah sie direkt mit dem Bauch nach unten liegen. Um ihr wenigsten ein bisschen behilflich zu sein, zog ich sie am Arm auf die Beine, ging sicher, dass sie nicht ernsthaft verletzt war.
„Bitte“, bat sie mich leise und sah ausgelaugt zu Boden, während sie sich ein Blatt aus dem zerzausten Haar zog. „Etwas langsamer.“
Aber ich hörte nicht auf sie. Ich wandte mich von ihr ab und ging, ohne auf ihren Protest zu achten, weiter. „Wir laufen weiter, keine Widerrede. Vielleicht solltest du dich besser darauf konzentrieren wo du hinläufst, anstatt …“
„Nein, ich will langsamer laufen!“, schrie sie aus heiterem Himmel und ich blieb sofort auf der Stelle stehen. Wiederholt drehte ich mich zu ihr, nur um das erste Mal eine ansatzweise wütende Miene in ihrem eigentlich sonst immer unschuldigen Gesicht zu sehen. Sie hatte ihre Fäuste geballt und spannte sich an. „Ich …“, quetschte sie wortkarg hervor und presste ihre Augen zusammen, als würde sie jeden Moment explodieren. Sie atmete tief durch. „Ich habe Schmerzen, meine Beine sind geschwächt und ich bin müde“, erklärte sie schließlich flehend. „Bitte! Verstehst du das denn nicht?“
Es war für mich das erste Mal sie als jemanden zu sehen, der wie jeder andere Mensch auf der
Welt eine Grenze hatte, die nun überschritten war. Ich vergaß zu oft, dass Annemarie ein Mädchen oder eher eine junge Frau war, die es nicht leicht bei uns hatte, doch das änderte nichts an unserer momentanen Lage.
Deswegen kniff ich etwas die Augen zusammen und kam ihr Schritt für Schritt näher. „Was? Du willst langsamer laufen? Glaubst du, das macht Sinn nachdem du geschrien hast wie eine Verrückte, hm?“
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