„Das mit Walt“, begann John ein Gespräch, was mich überraschte, derweil ich ihm folgte und auf den Boden unter uns sah. „Es wird öfter vorkommen.“
Meine Laune änderte sich schlagartig und ich ließ die Schulter hängen. „Ja … Damit hatte ich gerechnet.“
„Dagegen kann niemand etwas tun. Frauen … oder Mädchen waren nie eine sonderlich hoch eingestufte Spezies in unserem Trupp. Und er war nie sonderlich nett.“
Ich gab darauf nichts zurück. Ich wusste nicht, was ich sagen könnte, ohne direkt tottraurig zu klingen. Trotzdem wollte ich irgendetwas sagen. Ich wollte ein Gespräch mit John führen, ein ganz normales. Abgesehen von dem Krieg und abgesehen von dieser ganzen Situation. Ich vermisste es, normal zu denken, ich vermisste es wirklich sehr. Aber dafür fühlte ich mich noch nicht bereit und John mit Sicherheit auch nicht. Ob er überhaupt in den letzten Jahren ein normales Gespräch geführt hatte? Komplett außerhalb des Krieges?
John bückte sich ein paar Minuten später nach Holz, zischte auf, weil er Schmerzen hatte und ich half ihm wie selbstverständlich. Gesprochen wurde erneut nicht.
Ab und zu trafen sich unsere Blicke, doch sie sagten nichts aus. Es schien immer wieder Zufall gewesen zu sein, deswegen interpretierte ich nichts hinein, wäre auch Schwachsinn gewesen.
„Das sollte reichen“, sagte John nach einer ganzen Weile durch die Dunkelheit, als er und ich bereits eine Menge Stöcke im Arm hatten. „Wir sind sowieso schon viel zu weit vom Rest entfernt, das kann ziemlich schlimm enden.“
Er ging wieder voran, diesmal in die Richtung, aus der wir gekommen waren und ich lief ihm wieder hinterher. „Ich habe das Gefühl, vieles das hier gesprochen wird, endet mit Verdacht auf den Tod.“ Diesen Satz hatte ich mir bereits seit zehn Minuten im Kopf zusammengebastelt, weil er mir schon lange auf der Zunge lag.
„Weil es nun mal so ist“, sagte John darauf. „Es kann ziemlich schlimm enden.“
„Aber … „
Und mit einem Mal blieben wir stocksteif stehen und mir fielen die Stöcke aus dem Arm.
Zuerst hörte ich die Schüsse. Dann das Gebrüll.
Und dann fiel mir erst auf, dass der eigentlich schwarze Himmel in einem dunklen orange getränkt war.
Ich wollte John fragen, was in unserem Lager los war, wollte versuchen, irgend etwas zu sagen, doch dazu kam ich nicht einmal. Plötzlich fielen Schüsse und ich wurde stocksteif vor Schreck.
Innerhalb von Millisekunden kam mir nur ein Gedanke in den Kopf. Katharina.
„Zurück in den Wald“, drängte John, behielt seinen Blick weiterhin starr geradeaus, von wo man eine riesige Rauchwolke erkennen konnte. Er ging langsam einen Schritt zurück, schien total konzentriert. „Sie kommen.“
Auf Anhieb verstand ich nicht, wer er mit „Sie“ meinte und wieso wir uns in den Wald zurückziehen sollten, deswegen blieb ich versteinert auf der Stelle stehen. Ich kannte
Situationen wie diese nicht, John schon. Und genau deswegen kam er einen schnellen Schritt auf mich zu und zog mich ohne Vorsicht mit sich zurück in den Wald, bis ich jedoch wieder zu Sinnen kam und er mich losließ, weil ich begriffen hatte, dass es wohl von dringender Not war, hier im Wald versteckt zu sein.
Und vor allem verstand ich es, als ich über meine Schulter zurückblickte. Aus der
Rauchwolke kamen zwei riesige Panzer zum Vorschein, ringsherum viele Männer mit Waffen in den Händen. Sie waren keine amerikanischen Soldaten.
Es war die Hölle. Es war die pure Hölle, in der wir uns befanden.
Ruckartig blieb John stehen und in nur wenigen Momenten zog er mich hinter einen Baum, der umgeben war von Büschen, setzte sich zu Boden und drückte mich neben sich, sodass ich einen Schmerz in meinem Steißbein spüren konnte.
Johns Atem ging schnell, als er sich umsah, man von Weiten den Motor der Panzer und das Gebrüll hörte. Ab und zu fiel wieder der ein oder andere Schuss. Mein Herz trommelte so heftig, dass ich das Schlagen davon fast mit den Schüssen verwechselte. Es passierte alles so schnell, es fiel mir sehr schwer mich zu konzentrieren oder die Situation zu verstehen, als ich meinen Rücken gegen das Holz presste und meine Finger in das Moos unter mir krallte.
„Gib keinen Ton von dir“, befahl John und sah hinter dem Baum hervor. „Sie werden uns nicht sehen, wenn wir leise sind.“ Er drückte seinen Rücken wieder an das Holz, genauso wie ich, und zog seinen Revolver aus der Jacke, machte sie scharf.
Ich drückte meinen Augen so fest ich konnte zu, wünschte, ich könnte das mit meinen Ohren genauso machen, um gar nichts mehr mitzubekommen. Es fühlte sich an wie das Ende, das uns immer näherrückte, dabei war es doch erst der Anfang. In dem Moment, in dem ich bereits die Schritte der Soldaten hören konnte, die durch den Wald zu uns heran raschelten, betete ich, ich würde träumen.
Nein, ich war in diesem Moment nicht im Krieg. Nein, ich musste nicht denken, dass Katharina erschossen wurde und nein, ich bangte gerade nicht um mein Leben und saß neben einem amerikanischen Soldaten, der Mitglied einer Truppe war, die mich gefangen hielt.
Mein Griff in das Moos wurde immer fester, ich zerquetschte es bereits in meinen Handflächen. Nichts hiervon wollte ich wahrhaben.
„Ich sagte doch, wir schaffen das!“, ertönte plötzlich eine männliche Stimme und was mich am meisten überraschte war, dass sie deutsch sprach.
Ich öffnete die Augen, lauschte weiter den Schritten, die uns näherkamen.
John drehte ganz leicht seinen Kopf zu mir, prüfte mich beinahe. „Ruhig, Annemarie“, flüsterte er ganz leise.
Doch ich konzentrierte mich nur auf die Stimmen der Soldaten, die sprachen.
„Hätte mir eigentlich klar sein müssen, dass die Amerikaner die größten Feiglinge sind!“
„Habt ihr das kleine Mädchen gesehen? Hat einer das kleine Mädchen erschossen?“
Ich spitzte hoffnungsvoll die Ohren.
„Sie haben sie mitgenommen, ich habe es gesehen!“, rief wieder einer und ich war mir sicher, sie waren nicht mehr als zwei Meter von uns entfernt.
Sie kamen von links und würden jeden Moment hinter uns vorbeilaufen, ohne uns jedoch zu entdecken, wenn wir uns nicht bewegten. Aber ich wusste nun, dass sie deutsch waren.
Ein riesiger Konflikt startete in meinem Kopf, während immer mehr Soldaten an uns vorbeiliefen und ich spüren konnte, dass John den Atem anhielt, die Augen schloss und wartete.
Ein Schrei hätte mich retten können, hier und jetzt. Diese Männer hinter mir waren meine Landesleute, ich könnte schreien und sie würden mich retten. Mich und Katharina. Sie würden uns nicht hassen, weil wir deutsch waren, nein sie würden uns einfach nur helfen und vielleicht zu unserem Vater bringen.
Mit jeder Sekunde wurde ich immer nachdenklicher. Ich wusste nicht, was mich davon abhielt zu schreien, ich wollte unbedingt frei sein. Ich wollte Major Pattons nicht mehr erleben, nicht mehr dieses Leid erleben, ich wollte frei sein. Ich sollte –
Etwas landete plötzlich genau vor uns im Gebüsch und John und ich schnappten gleichzeitig entsetzt nach Luft, hielten nun beide den Atem an.
„Man, du Penner!“, kam uns eine noch junge Stimme gefährlich nahe und die dazu gehörenden Fußstapfen, die durch die Büsche schleiften, genau in unsere Richtung.
Ein junger Mann lief direkt an uns vorbei und ich riss die Augen auf, während mein Herz zu meinen Fußsohlen rutschte. Auch John versteifte sich.
Ich beobachtete den Jungen, der leise fluchend in dem Gebüsch wühlte und dann schließlich ein Buch daraus zog, es kopfschüttelnd betrachtete. „Sie können es einfach nicht lassen.“
„Du bist so eine Memme!“, schrie ihm jemand zu und anscheinend war der deutsche Trupp ihm schon ein ganzes Stück voraus. „Sieh zu, dass du herkommst!“
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