„Ich denke, nun ist es an der Zeit, den Grund für das geheimnisvolle Erscheinen von Melbart und Cai zu erfahren“, leitete König Wechis erwartungsvoll ein. „Ich vermute, es ist ein gewichtiger Grund.“
„Ihr vermutet richtig“, erwiderte Melbart. „Was an den Grenzen geschieht, und ich betone ausdrücklich, auch an den Grenzen des Nordens, ist nur ein Vorspiel für einen neuen Krieg, von dem wir annehmen können, dass Kryonos ihn plant. So viel habt ihr euch auf der Versammlung ja bereits klargemacht, und ich kann es mit weiteren Anzeichen untermauern. Die Seenländer haben an ihren Nord- und Ostgrenzen die gleichen Beobachtungen gemacht wie Ihr. Dass Kryonos noch so vorsichtig vorgeht, ist für uns ein Zeichen, dass er bisher kaum seine alte Stärke zurückerhalten haben dürfte. Was mich wundert, sind diese Kundschafterzüge, von denen er eigentlich wissen müsste, dass sie uns warnen. Als wolle er uns von etwas anderem ablenken. Erinnert Ihr Euch an die Legende von König Merowinth, einen der frühen Herrscher über das Seenland und in gerader Linie von Nigall, dem Großfüßigen, abstammend, dem ersten König der vereinten Seenland-Provinzen?“
Natürlich war ihnen diese Legende mehr oder weniger vertraut. König Merowinth und seine Gefährten waren bekannte Helden in der Geschichte von Erdos.
Danan´hô wiederholte vor den Anwesenden noch einmal die Sage von Merowinth und seinen Gefährten und betonte, dass deren Schicksal, wenn es auch nie bewiesen werden konnte, für die Elfen unzweifelhaft mit dem Ende der Macht von Kryonos verbunden war.
„Diese Vermutung wird dadurch gestützt, dass die Bestien und alle auf deren Seite kämpfenden Wesen sich fluchtartig von den Schlachtfeldern zurückzogen und sich in alle Winde zerstreuten. Wir glauben, dass das Achôn-Tharén, das Kryonos einen wesentlichen Teil dieser Macht verlieh, damals in noch andere, uns unbekannte Hände gelangte, die es allerdings nicht wieder an Kryonos zurückgaben, da sein Einfluss erloschen blieb. Seit damals ist es verschollen, und wir fühlten uns über eintausend Jahre in Sicherheit. Bis heute. Wo das Achôn-Tharén verborgen ist, ist unbekannt“, schloss er.
„Wenn jedoch keiner der Krieger um König Merowinth jemals wieder zurückkehrte, wie könnt Ihr dann so sicher sein, dass diese Schar tatsächlich die Ursache für die Entmachtung von Kryonos war?“, wandte Cai ein.
Melbart hatte ihn zwar gebeten, an König Wechis´ Hof zu kommen, ihn über seine Absichten und dem, was ihnen zugrunde lag, aber im Unklaren gelassen.
Danan´hô nickte, als hätte er diesen durchaus berechtigten Zweifel erwartet, und seine folgenden Worte bestätigten das dann auch.
„Eure Frage kommt nicht unerwartet“, gab der Elf zu. „Ich kann Euch aber versichern, dass es tatsächlich keine unmittelbaren Zeugen, außer möglicherweise einige Kreaturen des Kryonos, gab. Heute werde ich ein Geheimnis preisgeben, das über eintausend Jahre von den Elfen gehütet wurde, doch die Umstände rechtfertigen diesen »Verrat«, und er erfolgt mit dem Wissen meines Königs. Es stimmt, nur wenige Eingeweihte kannten damals das Ziel von Merowinths Schar, die mitten im Krieg heimlich aufbrach, um Kryonos in seinen Höhlen anzugreifen. Einer dieser Eingeweihten war der Elfenkönig Her´eldan, der Großvater Nôl´tahams. Als nun der Krieg zu Ende war und Merowinth und seine Männer in den Monaten danach verschollen blieben, entschloss sich dieser König, nach ihnen suchen zu lassen. Etwa ein Jahr nach Merowinths Aufbruch schickte er einige Krieger in den Norden zu dem Verlorenen Berg. Durch einen unwahrscheinlichen Zufall entdeckten sie vier Tagesmärsche vor dem Ziel die Überreste einer kleinen Kriegerschar. Von den Leichen waren nur noch wenige Knochen übrig, und die Ausrüstung lag weit zerstreut. Um wen es sich handelte, war zunächst unklar, obwohl die Tatsache, dass die Ausrüstung unterschiedlichen Ursprungs war, sie fanden Gegenstände seenländischer, elfischer, grünländischer und zwergischer Herkunft, einen Hinweis auf eine gemischte Gruppe lieferte. Schließlich entdeckten sie ein Schwert, dass eindeutig König Merowinth zugeordnet werden konnte. Das war der Beweis dafür, dass die Krieger, deren Schicksal sie herausfinden sollten, umgekommen waren. Der Hergang konnte jedoch nicht mehr geklärt werden, und die Umstände ihres Todes blieben rätselhaft. Anschließend zogen die Elfen weiter zum Verlorenen Berg. Sie stellten bald fest, dass Kryonos´ Macht tatsächlich versiegt war, und allem Anschein nach Merowinths Vorstoß Erfolg gehabt hatte, denn sie wussten um den Plan des Königs, und einen anderen Grund für die Verlassenheit des Verlorenen Berges konnten sie nicht erkennen. Sie begegneten weder Bestienkriegern noch anderen seiner Kreaturen, und anders als sie erwartet hatten, waren die wilden Tiere, die einst vor dem Schrecken geflohen waren, wieder in diese Gegend zurückgekehrt. Die Elfen wagten sich bis in jene Halle vor, die Kryonos allem Anschein nach als Unterschlupf gedient hatte, konnten von ihm aber keine Spur entdecken. Wir vermuten, dass er sich tief unter den Berg zurückgezogen hatte. Schließlich kehrten die Elfen wieder in ihre Heimat zurück und erstatteten Her´eldan Bericht. Er und seine Berater kamen zu dem Schluss, dass das Achôn-Tharén aus den Höhlen entwendet werden konnte und es zumindest bis zu dem Zeitpunkt der Rückkehr des Suchtrupps noch nicht wieder zu Kryonos zurückgekehrt war. Seither blieb es verschollen. Her´eldan und seine Berater schlossen aber die Möglichkeit nicht aus, dass das Achôn-Tharén die Schuld an dem Tod Merowinths und seiner Krieger trug.“
„Diese Geschichte ist mir völlig unbekannt“, gab Wechis zu. „Ich kenne die Sage um Merowinth und alles, was drum herum erzählt wurde, nur als eine der vielen nebulösen Legenden aus der Vergangenheit. Also gibt es doch ziemlich sichere Anzeichen für den bisher vermuteten Ausgang der Fahrt von Merowinths Schar.“
„Dass Ihr nichts davon wusstet, erstaunt mich nicht“, meinte Danan´hô lächelnd. „Ich vermute, dass ich in diesem Kreis der Einzige bin, der davon Kenntnis hatte, und ich schätze sogar, nicht einmal Melbart kennt die Einzelheiten.“
Der nickte und grummelnd fügte er hinzu: „In der Tat. Ich hatte angenommen, dass mein Wissen über die Elfen und ihre Geschichte einigermaßen vollständig ist, doch offensichtlich vertraut man mir manche Dinge doch nicht an.“
Danan´hô schmunzelte, ging aber nicht weiter auf Melbarts Bemerkung ein, sondern wandte sich wieder an Wechis: „König Wechis, wenn die Fahrt für die Krieger auch tragisch endete, so war sie doch erfolgreich, denn das Achôn-Tharén war ohne Zweifel Kryonos entwunden, und wie sich später zeigte, blieb es das auch.“
„Doch warum hielten die Elfen diese Suche und ihr Ergebnis geheim?“, fragte Cai dazwischen.
„Tja, ehrlich gesagt, ich weiß es nicht“, musste Danan´hô zugeben. „Es wird sicher Gründe dafür gegeben haben, doch sind sie mir nicht bekannt. Sicher ist aber auch, dass die Geheimhaltung nicht so gut war, dass überhaupt nichts darüber bekannt wurde, denn nach und nach gelangten Bruchstücke dieses Unternehmens an die Öffentlichkeit, doch bevor sie sich zur Wahrheit zusammensetzen konnten, waren bereits mehr oder weniger wahre Legenden daraus entstanden. Vielleicht war es so auch beabsichtigt. Jedenfalls blieb das Achôn-Tharén in den folgenden Jahrhunderten verschwunden, und wir haben bis heute keine Ahnung, wo es sich befindet. Und so verbreitete sich unter den Völkern von Erdos ein trügerisches Gefühl der Sicherheit. Ja, es geriet größtenteils sogar in Vergessenheit.“
„Die Sicherheit war tatsächlich trügerisch“, bemerkte Melbart. „Das Achôn-Tharén wird wieder auftauchen und Kryonos erneut nach seiner alten Macht greifen, denn nur dieses legendäre Wesen ist in der Lage, ihm seine Kraft zurückzugeben, und es scheint bereits einen gewissen Einfluss auf Kryonos auszuüben. Doch unterschätzen wir ihn nicht. Auch ohne das Achôn-Tharén ist er ein sehr mächtiger Gegenspieler, aber nicht stark genug, eine ganze Welt wie Erdos mit all seinen Völkern zu unterwerfen. Dazu braucht er dessen Unterstützung.“
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