„Woher kennst du die Feenkönigin?“, wollte Cai von Melbart wissen.
Der hatte ihnen in der Zwischenzeit erklärt, dass Liseniél nicht irgendein Einhorn war, sondern die Herrscherin der Feenwelt und in verschiedenen Erscheinungen auftauchen konnte.
„Aus der langen Geschichte dieser Welt“, erhielt er die rätselhafte Antwort.
Und irgendwie hatte Cai auch nichts anderes erwartet.
Am folgenden Morgen hatten sie es erstaunlich eilig, ihr Gepäck zusammenzupacken. Scheinbar wollte jeder so schnell wie möglich diesen unheimlichen Teil des Waldes hinter sich bringen. Nach einer kurzen Mahlzeit brachen sie auf.
Der Pfad war immer noch von den Bäumen überdacht und ließ keinen Blick auf den Himmel zu. An diesem Tag schien es nicht richtig hell werden zu wollen. Es blieb so trübe wie in der Dämmerung. Die Elfen, denen das als Erste auffiel, klärten die anderen auf, dass es kein Grund zur Besorgnis war. Der Himmel war nur eben von Wolken bedeckt. Einzelne Vogelschreie und deren gelegentliches Singen erreichten nun ihre Ohren, anders als am Tag zuvor. Es schien alles so zu sein, wie sie es in einem ordentlichen Wald erwarten konnten. Und tatsächlich erreichten sie am frühen Vormittag seinen Saum. Bis dorthin sollten die Valedrim-Krieger ihre Schutzbefohlenen geleiten. Und es würde für sie ein denkwürdiger Ritt bleiben.
Jetzt erst merkten sie, wie sehr das Blätterdach über dem Weg das Licht gedämpft hatte. Obwohl der Himmel immer noch wolkenverhangen war, mussten sie ihre Augen für einen Augenblick zukneifen. Den Elfen jedoch machte es weniger aus. Ihre Augen konnten sich leicht darauf einstellen.
„Hier werden wir uns von euch trennen“, sagte Kil´anor und fügte schmunzelnd hinzu: „Seid versichert, dass wir einen Ritt erlebt haben, den wir nicht vergessen werden.“
„Wir danken euch, dass ihr uns bis hierher begleitet habt“, antwortete Melbart. „Entrichtet König Nôl´taham ebenfalls unseren Dank und unsere Grüße.“
„Werdet Ihr den gleichen Weg zurückreiten?“, erkundigte sich Angholt.
„Sicher“, sagte Kil´anor. „Ich glaube nicht, dass uns Gefahr droht. Wer weiß, vielleicht hat der Wald etwas gegen Fremde? Ich vermute, gestern war ein ganz besonderer Tag, der sich heute nicht wiederholen wird. Wir sind allein auch schneller unterwegs. Bis heute Abend werden wir wieder am Klippstein sein. So bleiben uns vielleicht unangenehme nächtliche Begegnungen mit wilden Tieren oder anderen Wesen erspart. Euch allen noch eine gute und sichere Reise.“
Die Gefährten winkten den Elfen noch einmal hinterher, die kurz darauf im Wald verschwunden waren.
„Ein seltsamer Wald“, sagte Angholt, mehr zu sich selbst, und blickte sich den Saum versonnen an. „Mit erstaunlichen Bewohnern.“
„Findest du?“, fragte ihn Ken´ir, der die Worte gehört hatte.
Angholt blickte den Elfen an.
„Ja“, antwortete er nur und folgte den anderen, die bereits einen kleinen Vorsprung hatten.
Ken´ir sah lächelnd hinter ihm her und trieb sein Pferd ebenfalls an.
„Auf nun, zu den Stromschnellen!“, rief Melbart. „Wir haben schon zu viel Zeit verloren.“
Sie spornten ihre Pferde an und hielten auf die Ebene zu.
Ein letztes Mal drehte sich Angholt zum Wald um. Zu seinem Erstaunen erblickte er im Schatten der Bäume mitten auf dem Pfad zwei kleine Wesen, fast wie Kobolde. Sie waren behaart, hatten aber häutige, menschenähnliche Gesichter. Kaum hatten sie bemerkt, dass er sie beobachtete, da verschwanden sie blitzschnell im Wald. Deshalb war er sich nicht sicher, ob ihm seine Augen nicht doch einen Streich gespielt hatten. Dass es nicht so war, konnte er einige Zeit später selbst herausfinden.
Je weiter sie sich von dem Wald entfernten, desto stärker lichtete sich die Wolkendecke, der über ihnen lag. Schließlich löste sie sich auf und gab den Blick auf Astur und Pelin frei. Es war noch früh am Tag und beide Sonnen waren noch ein ganzes Stück voneinander entfernt. Hier gab es keinen ausgetretenen Pfad mehr, der die Verlängerung des »Trollsteigs«, wie Angholt den Alten Klippweg insgeheim getauft hatte, gebildet hätte. Reisende kamen selten in diese Gegend.
Sie durchquerten eine weite, grasbedeckte Ebene, die zum südlichen Teil des Seenlandes gehörte. Vereinzelte Bäume und Büsche standen unregelmäßig verstreut in der Landschaft. Von einer Besiedlung war keine Spur zu entdecken. Gelegentlich blickten Melbart und Ken´ir misstrauisch in den klaren Himmel, um sich zu vergewissern, dass sich nirgendwo die Silhouetten von Kimocs zeigten. Im Wald waren sie vor einer Entdeckung geschützt gewesen, doch in diesem freien Gelände würden sie ihren scharfen Augen kaum entgehen können. Obwohl sie nichts feststellen konnten, hatten sie zeitweilig das Gefühl, beobachtet zu werden.
Schließlich erreichten sie eine flache Anhöhe und hielten an. Dieser Ort gestattete ihnen eine gute Rundumsicht. Ein einzelner Reiter kam auf sie zu.
„Seid ihr endlich da!“, rief er. Es war Angulfin. „Seit gestern warten wir schon bei den Stromschnellen auf euch. Thorgren wird bereits ungeduldig. Er will in die Sümpfe aufbrechen.“
„Wir wurden aufgehalten“, sagte Melbart. „Doch nun lass uns unverzüglich zu ihm stoßen.“
Das letzte Stück des Weges bis zu den Stromschnellen war nur noch kurz. Als sie über eine letzte Hügelkuppe kamen, sahen sie im Talgrund vier Pferde grasen. Eine Gestalt löste sich aus einem Hain und lief auf eine kleine Erhebung zu, die sich beim Näherkommen als eine ungewöhnliche Höhle entpuppte. So, wie sie in der Bodensenke lag, konnte sie nur künstlich angelegt worden sein. Das war aber tatsächlich nur zu erkennen, wenn man aus der Richtung kam, aus der sich die Reiter jetzt diesem Ort näherten.
Kurz bevor sie den Höhleneingang erreichten, traten zwei Männer heraus. Das mussten Thorgren und Zihanor sein.
Angulfin und Melbart übernahmen die Vorstellung der nun vollzähligen Gefährten. Es waren mehr geworden, als Thorgren erwartet hatte. Tatsächlich hatte er anfangs ja mit überhaupt keinen Begleitern gerechnet.
Angholt hatte sich von den »Schrecken« des unheimlichen Waldes wieder erholt und seine Abenteuerlust war zurückgekehrt. Er fing innerlich zu lachen an, als ihm plötzlich die einfältige Frage einfiel, ob die Fahrt für eine so große Gruppe überhaupt genug Abenteuer bieten konnte. Doch es sollten mehr als genug werden.
Adhasil wunderte sich, warum der Mann, den Angulfin als Zihanor vorgestellt hatte, sich plötzlich und mit erschrockenem Gesicht abwandte und in die Höhle verschwand. Nach einiger Zeit kam er mit einem enttäuschten Gesicht wieder heraus. Sein Verhalten blieb ihr ein Rätsel, bis sie von den verbrannten Fischen hörte.
Sie hatten sich eigentlich dazu entschlossen, ohne Verzögerung weiterzureiten, doch zuvor wollte Angholt unbedingt noch die Höhle untersuchen, die Thorgren, Zihanor und Angulfin als Unterschlupf gedient hatte, denn sie schien ihm nicht natürlichen Ursprungs zu sein. Und falls seine Vermutung stimmte, musste sie irgendwer geschaffen haben. Vielleicht konnte er darüber etwas herausfinden.
Er wartete, bis Thorgren und Zihanor mit ihrer Ausrüstung herauskamen.
„Was hast du vor?“, fragte ihn Zihanor.
„Mich nur noch einmal kurz drinnen umsehen.“
„Wenn du meinst, dass es dort etwas zu entdecken gibt. Nimm wenigstens diese Fackel mit.“
Zihanor hatte sie noch nicht gelöscht. Er grinste Thorgren an und sagte: „`Mal sehen, wie lange er braucht, um ihn zu entdecken.“
„Wir hätten ihn warnen sollen“, meinte Thorgren, ohne auf den kleinen Seitenhieb seines Freundes einzugehen. „Er wird sich zu Tode erschrecken.“
„Was soll ihm denn passieren?“
„Nichts, sonst hätte ich ihn ja auch nicht hineingelassen. Und trotzdem ist es nicht gerade besonders nett von uns.“
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