„Ich hoffe, es geht Euch heute Morgen wieder etwas besser“, sagte er, obwohl der Gesichtsausdruck Cais dem erkennbar widersprach.
„Es könnte mir gar nicht besser gehen“, erwiderte Cai knurrend, doch sein Galgenhumor war nicht zu überhören.
Aber nach einigen Handvoll kaltes Wasser fühlte Cai sich dann wirklich besser.
Die geheimnisvollen Geräusche des Waldes waren um diese Zeit verstummt, und die Tagvögel hatten wieder ihren Platz in der Geräuschkulisse übernommen. Und sie gaben sich redlich Mühe. Einige der Elfen Kil´anors hatten die Reste des Serpans zubereitet und brieten sie über dem Feuer. Wie der Anführer der Elfen versprochen hatte, schmeckte das Fleisch der Schlange tatsächlich vorzüglich. Das musste schließlich auch Cai zugeben. Nach anfänglicher Ablehnung hatte er sich dann doch entschlossen, von dem Tier zu kosten. Und nach dem ersten Bissen nahm er sogar noch mehrere Stück des Bratens. Nicht nur, weil das Fleisch wirklich delikat war, sondern weil es ihm eine außerordentliche Genugtuung bereitete, seinen nächtlichen Todfeind zu verspeisen.
Einige Zeit bevor Astur aufging, was man auf der Lichtung verständlicherweise erst sehr viel später bemerkte als außerhalb des Waldes, waren die Reiter wieder bereit zum Aufbruch.
„Bis heute Mittag werden wir den Klippstein erreichen“, klärte Kil´anor die Gruppe auf. „Für diejenigen, die ihn nicht kennen: Es ist eine Felsnase am Straßenrand, bei dem wir die Waldstraße verlassen werden. Von dort werden wir auf einem schmalen Pfad in Richtung Westen weiterreiten, auf dem Alten Klippweg, wie wir ihn nennen. Er führt bis zum Rand des Valedrim-Waldes. Allerdings werden wir es bis dahin heute nicht mehr schaffen. Wenn alle so weit sind, dann geht´s los.“
Kil´anors Worte waren geradezu prophetisch.
Sie bestiegen ihre Pferde. Urth übernahm die Führung der Packtiere. Beim Aneinanderbinden der Tiere machte er eine seltsame Beobachtung. Wo immer er Elian, das Elfenpferd, hinstellen wollte, es weigerte sich hartnäckig, bei den anderen Packpferden zu bleiben. Immer wieder versuchte es, zu seiner mittlerweile anerkannten Herrin Adhasil zu gelangen. Anfangs bedachten die Reiter diese Anhänglichkeit mit Gelächter. Schließlich wurde Urth die Sache zu bunt, aber bevor er sich ernsthaft ergrimmte, meinte die Fürstin: „Na schön, wenn du unbedingt bei mir bleiben willst, dann mache ich deine Führungsleine eben an meinem Pferd fest.“
Ein freudiges Kopfnicken Elians war die Antwort. Damit verließen sie die Lichtung und setzten ihren Weg fort.
Bald verschwand der Nebel und es wurde wärmer. In der Schneise, durch die die Straße verlief, würden die Sonnen trotzdem nur verhältnismäßig kurz um die Mittagzeit zu sehen sein. Den übrigen Tag wurden sie durch die Bäume verdeckt und ihr Licht durch einen grünlichen Schimmer getrübt.
Die Reiter waren noch nicht lange unterwegs, als sich auf der Lichtung ein seltsames Schauspiel zutrug. Eigentlich waren es zwei, denn zuerst schoben sich langsam, aber erkennbar neue Zweige in den Durchgang zum Graben. Nach kurzer Zeit war er fast so zugewachsen, als hätte es ihn nie gegeben. Nur die Elfen würden ihn jederzeit wiederfinden. Kaum war das geschehen, da raschelte es rings um die Lichtung an mehreren Stellen und die Zweige der niedrigen Sträucher begannen sich zu bewegen, als sie auseinandergedrückt wurden. Gleichzeitig traten mehrere kleine Wesen mit menschenähnlichen Gesichtern aus dem Wald heraus.
Sie trugen keine Kleidung und waren von oben bis unten behaart. Die Kobolde warfen sich mit hellen Stimmen einige Worte zu und begannen, die äußeren, ausgebrannten Feuerstellen mit Moos zu bedecken. Zwar hatten die Elfen sie gelöscht, aber offen liegengelassen. Danach entfachten sie das große Feuer in der Mitte der Lichtung erneut und begannen, lachend darum herumzutanzen. Sie hielten sich an den Händen und sprangen im Kreis. Als sie ihren Tanz nach einiger Zeit beendeten, löschten sie das Lagerfeuer und bedeckten die Asche wie bei den anderen Feuerstellen ebenfalls mit Moos. Anschließend verschwanden sie geschwind in alle Richtungen im Wald. Die Spuren des Nachtlagers waren so verwischt, dass nichts mehr darauf hindeutete.
Von alldem ahnten die Reiter nichts. Sie hatten sich bereits ein gutes Stück von der Lichtung entfernt. Melbart lenkte sein Pferd neben das von Cai, der etwas schief im Sattel saß.
„Hast du starke Schmerzen?“, erkundigte er sich. „Wenn du willst, dann gebe ich dir noch einige der schmerzlindernden Kräuter.“
Cai sah ihn an und erwiderte: „Es geht schon. Wenn ich so sitze, dann ist es leichter zu ertragen. Deswegen brauchen wir nicht anzuhalten. Vielleicht bei der nächsten Rast.“
Melbart nickte und ließ sein Pferd wieder auf seinen alten Platz hinter Cai zurückfallen.
Wie Kil´anor angekündigt hatte, erreichten sie um die Mittagszeit den Alten Klippweg. Astur und Pelin standen dicht beieinander hoch am Himmel und warfen ihre heißen Strahlen auf die Straße. Zu dieser Zeit waren die Schatten der Reiter am kürzesten und man konnte kaum erkennen, dass es eigentlich zwei Schatten waren, die jeder von ihnen warf.
Am Eingang zum Alten Klippweg befand sich ein großer Felsen – groß für einen Felsen, der mitten in einem sonst gebirgslosen Wald stand. Er maß gut und gern die anderthalbfache Höhe eines Menschen und erhob sich an einem Platz, der erstaunlicherweise frei von jedem Bewuchs war. Der Boden um ihn herum war nicht einmal von Gräsern oder Moosen bedeckt. Der Stein schien von irgendwem dort vergessen worden zu sein, so wie er dastand, und wirkte eigenartig unpassend in dieser Umgebung. Die Elfen hatten ihm den Namen Klippstein gegeben und nach ihm den Pfad benannt.
Die Reiter hatten sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite zur Rast niedergelassen. Angholt schaute sich den Stein genau an, während er aß. Irgendetwas an dem Stein war seltsam, und er versuchte dahinterzukommen, was es war. Der Klippstein zeigte deutliche Kratzspuren, als hätte ein großes Tier seine Krallen an ihm gewetzt, was seine ursprüngliche Gestalt aber nicht bis zu Unkenntlichkeit zerstört hatte.
„Wenn man sich die Kratzspuren wegdenkt“, murmelte Angholt in einem Selbstgespräch, dann hat er Ähnlichkeit –“, er grübelte. „Na klar, mit einem Troll“, sagte er lauter als er beabsichtigt hatte.
Einige waren auf Angholts laute Gedanken aufmerksam geworden und blickten ihn an. Ken´ir saß ihm am nächsten und Angholt wiederholte ihm gegenüber seine Feststellung.
Der Elf lächelte ihn an.
„Gut beobachtet, mein Junge“, sagte er. „Aber bevor du mehr wissen willst, muss ich deine Hoffnung auf Antworten dämpfen. Er steht schon sehr lange hier. Vielleicht stand er schon hier, bevor es den Wald gab. Jedenfalls ist er so alt, dass keiner weiß, woher er kam und wer ihm seine Verletzungen beigebracht hat, wenn es einen Kampf gab. Und ob es sein letzter Kampf war oder ihm die Kratzspuren später zugefügt wurden, wird dir niemand mehr sagen können.“
„Munas haben Krallen, die dafür stark genug wären“, meinte Kil´anor.
„Möglich“, gab Ken´ir zu. „Trotzdem ist seine Anwesenheit hier, nach allem, was wir über Trolle wissen, eigentlich unmöglich.“
„Ihr meint, weil er sich so weit von den Bergen entfernt hatte und kaum in einer Nacht bis hierherkommen konnte?“, warf Hagil ein.
„So ist es“, gab Ken´ir zu. „Nach allem, was wir über die Lebensgewohnheiten von Trollen wissen, dürfte es diesen hier gar nicht geben.“
Wieder war Angholt – bei Tageslicht – von dem Valedrim-Wald begeistert.
„Aber es gibt ihn, und meiner Meinung nach ist es die einzige Erklärung, wie überhaupt ein Stein dieser Größe hierherkommen konnte“, hörte er die Worte eines ihm unbekannten Elfen aus ihrer Eskorte. „Wo es hier sonst keine Felsen gibt.“
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