Thorgren verließ die Trollhöhle. Er hoffte, die frische Morgenluft werde ihm helfen, seine Gedanken zu ordnen. Vor dem Eingang empfingen ihn die warmen Strahlen Pelins und noch einmal atmete er tief durch. Thorgren blickte zum entgegengesetzten Horizont und beobachtete, wie sich Astur langsam in den Himmel erhob. Die anderen waren Thorgren ebenfalls nach draußen gefolgt und betrachteten wortlos das Naturschauspiel.
„Ich habe eine Entscheidung getroffen“, sagte Thorgren unerwartet zu seinen Freunden. „Falls Melbart heute nicht auftaucht, dann werde ich morgen ohne die anderen in die Schwarzen Sümpfe aufbrechen. Ich weiß zwar nicht, was sie dann aufgehalten haben kann, doch ich spüre, dass wir nicht viel Zeit haben. Ihr müsstet dann hier bleiben und zunächst auf die andere Gruppe und anschließend auf mich warten, bis ich hierher zurückkehre.“
„ Wir werden zu Branwyn gehen“, meinte Zihanor entschlossen. „Oder wolltest du die Ehre, sie zu treffen, für dich allein in Anspruch nehmen? Außerdem fürchte ich, dass du es allein nicht schaffen wirst, nach den Erfahrungen des letzten Abends. Du würdest dich wahrscheinlich hoffnungslos verirren.“
Thorgren lächelte und schüttelte fast verzweifelt den Kopf. Zihanor hatte natürlich übertrieben, das wussten sie alle. Doch seit dem Beginn ihrer Reise hatte sich zwischen Thorgren und ihm bereits eine enge Freundschaft entwickelt, und jeder wusste, er konnte sich auf den anderen verlassen, auch wenn sie sich gelegentlich gern einmal gegenseitig auf den Arm nahmen. Deshalb hatte Thorgren auch mit Zihanors Einwand gerechnet. Zihanor würde ihn nicht allein gehen lassen. Aber nicht nur aus freundschaftlichen Erwägungen, sondern auch, weil er sich von den Sümpfen das eine oder andere Abenteuer versprach. Er würde sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Thorgren wusste, sein Freund würde es ihm schwerlich verzeihen, wenn er ihn nach einem so weiten Weg bei einer trostlosen Höhle zurückließ, nur um den anderen mitzuteilen, dass er schon wieder weitergezogen war.
„Und ihr glaubt wirklich, ich würde euch allein gehen lassen?“, warf Angulfin ein. „Die Sümpfe sind gefährlich in mancherlei Hinsicht. Und da Melbart von diesem Treffpunkt hier weiß, wird es genügen, wenn wir ihm eine Nachricht hinterlassen. Niemand braucht hier zu warten. Aber ich bin sicher, dass sie rechtzeitig hier sein werden. Macht euch keine Sorgen. Wenn ich eine Prophezeiung wagen darf, dann die, dass wir unser nächstes Nachtlager am Rand der Schwarzen Sümpfe aufschlagen werden – gemeinsam!“
„Na, wir werden sehen“, meinte Thorgren wenig überzeugt.
„Hast du eine Vorstellung, was du überhaupt bei der Seherin sollst?“, fragte Zihanor, der bisher nur das nächste Ziel ihrer Fahrt kannte, aber nicht den Grund dafür.
Thorgren zuckte mit den Schultern.
„Nein, das ist es ja, was mich beschäftigt“, gab er zu. „Die einzige Mitteilung bisher war die Aufforderung des Geistes von König Nigall, sie aufzusuchen.“
„Aha“, gab Zihanor zurück, auch nicht klüger als vorher. „Doch vielleicht weiß Angulfin etwas?“
„Ich?“, tat der Magier erstaunt. „Nein, dieses Mal verheimliche ich euch wirklich nichts. Ich rate euch nur, euch in Geduld zu üben. Es wird euch sicher zu gegebener Zeit mitgeteilt werden.“
Zihanor hatte einige Fragen zu Branwyn, doch Thorgren konnte sie nicht beantworten, und bei Angulfins ausweichenden Antworten hatte er den Eindruck, als wollte der Magier doch einiges verheimlichen. Schließlich gab er es auf. Er hoffte nur, dass Angulfin Recht hatte: Was wichtig war, würden sie noch rechtzeitig erfahren.
Bis zum Mittag vertrieb sich jeder die Zeit nach Belieben. Thorgren saß unter einer nahen Baumgruppe und dachte nach. Seine innere Unruhe hatte sich wieder etwas gelegt, war aber nicht völlig verschwunden. Zihanor nahm an, sein Freund wollte sich geistig auf die kommende Wanderung durch die Sümpfe vorbereiten. Er selbst hatte sich eine Angel gebaut und war zum Fluss gegangen, um zu fischen. Für die Angelschnur hatte sein Pferd ein paar Haare seines Schweifes opfern müssen, was es aber in bewundernswerter Geduld über sich hatte ergehen lassen. Angulfin war verschwunden. Er hatte sein Pferd gesattelt und war davongeritten, ohne seinen Gefährten wieder einmal zu sagen, was er vorhatte.
Am späten Vormittag kam Zihanor mit zufriedenem Gesicht und drei großen Fischen zur Höhle zurück. Er hatte sie gerade zubereitet, das Feuer neu entfacht und die Tiere auf Spieße darüber gehängt, um sie zu braten, als Thorgren hereinkam und ihm mitteilte, dass sich Angulfin in Begleitung einer größeren Anzahl von Reitern mit Packpferden ihrem Lagerplatz näherte. Zihanor vergaß fürs Erste die Fische und trat vor den Eingang. Die Gruppe hatte die Höhle fast erreicht, und er erkannte Melbart neben Angulfin. Also waren die anderen doch noch rechtzeitig erschienen.
„Oje, für so viele wird der Fisch ja nie reichen“, stellte er murmelnd fest.
Es waren sieben Reiter mit fünf Packpferden. Zwei Dinge fielen Zihanor sofort auf. Das Erste war eins der Packpferde, das ihm für diese Aufgabe viel zu edel erschien. Dann gewahrte er die Frau, die dieses Pferd mit einer langen Leine an dem ihren befestigt hatte. Doch obwohl er zunächst auf das Pferd und dann erst auf sie geachtet hatte, erschien sie ihm überaus reizvoll.
Überhaupt war die Gruppe ein recht bunter Haufen. Neben Melbart erkannte er einen Elfen. Das musste Ken´ir sein, von dem Angulfin gesprochen hatte. Desweiteren kamen da drei sehr große Krieger, die zwar wie Seenländer aussahen, aber eindeutig elfische Züge trugen. Er war sicher, dass die Frau mit ihrer außergewöhnlichen Wuchshöhe, aber dennoch zarten Erscheinung, ebenfalls zu diesem Volk gehörte. Und wenn sie keine Seenländer waren, mussten es Namurer sein. Der siebte Reiter war eindeutig ein Seenländer. Er war etwas kleiner als die Namurer, aber auch von kräftiger Gestalt. Sein Gesicht verriet ein entschlossenes Wesen.
„Habe ich euch nicht gesagt, sie werden rechtzeitig hier sein?“, sagte Angulfin triumphierend zu den beiden vor der Höhle wartenden Freunde.
Er sprang drahtig vom Pferd. Wieder eine Bewegung, die ihm keiner zugetraut hätte, der ihn nicht kannte. Auch die anderen waren nun abgestiegen.
„Ich darf euch zuerst meine beiden Begleiter vorstellen“, sagte Angulfin zu den Neuankömmlingen. „Das hier ist Thorgren. Ich denke, ich brauche euch nicht weiter zu erklären, um wen es sich handelt. Seinetwegen seid ihr ja schließlich alle hier. Und neben ihm steht Zihanor, der Sohn König Zethimers, des Herrschers über das Land-Der-Vielen-Feuer. König Zethimer hielt es für angebracht, mit seiner Teilnahme ebenfalls einen Beitrag zum Erfolg unseres kleinen Unternehmens beizusteuern.“
Cai, der die Vorbehalte vieler seiner Landsleute gegenüber den Lysidiern teilte, musterte Zihanor argwöhnisch, enthielt sich aber jeglicher Äußerung über dessen Herkunft und spottete nicht über Zihanors Bartlosigkeit, von der er wusste, dass sie nicht üblich war. Umso freudiger begrüßte er Thorgren, den er von Thorafjord her kannte.
„Wie ihr seht, bringe ich euch den anderen Teil eurer Gruppe“, sagte Melbart.
Ihm war bereits der fragende Blick Thorgrens aufgefallen, als er die Frau musterte. Er schien nicht völlig einverstanden mit ihrer Teilnahme zu sein. Natürlich wusste er noch nicht, wie es überhaupt dazu gekommen war, sonst wäre ihm bekannt gewesen, dass es zum Zeitpunkt des Aufbruches von Weißanger einigen anderen nicht anders ergangen wäre.
„Thorgren, ich sehe deinen vorbehaltvollen Blick auf die Fürstin Adhasil. Doch du solltest sie nicht unterschätzen. Sie hat sich als tapfere und einfallsreiche Kriegerin erwiesen und steht ihren männlichen Gefährten in nichts nach. In mancher Beziehung hat sie bisher sogar mehr Mut bewiesen, als es manch ein Mann getan hätte.“
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