Ok. Nun war für Lyze amtlich: Die junge Menschenfrau tickte nicht richtig.
So kam er erstmals hoch, zurück auf seine Beine. Anschließend legte er eine Hand in den Nacken und wanderte durch den Raum. Als er eine Runde gedreht hatte, stand er mit gerunzelter Stirn wieder vor Sari: „...Du musst den Prinzen suchen?“
Sie nickte.
„Den Prinzen... vom dämonischen Land, Azamuth, ja?“
Sie nickte erneut.
„Dir ist klar, dass die Adelsfamilie von Azamuth aus Vampiren besteht?“
„Lyze... hör zu, ich-“
„Nein... Nein, das- das kannst du vergessen!“, er trat eilig zur Tür und schwang diese auf, „Entweder bist du eine durchgeknallte Menschenfrau, oder ein völlig selbstmordgefährdeter Dämon-!“
„Du hast es versprochen!“ – Saris feste Stimme hallte, ehe er die Hand von der Türklinke nehmen und aus dem Raum treten konnte – und so zögerte er.
Er brach nur ungern ein Versprechen, doch genauso hatte er ein Problem damit, seinem Vorgesetzten überaus wichtige Informationen vorzuenthalten. So verharrte er, wie angewurzelt, an seiner Position.
Er konnte nicht. Seine Beine wollten nicht den ersten Schritt zu Kommandeur Viturin machen.
„Lyze... mal ehrlich, seh' ich aus wie ein Dämon? Kann man mein Verhalten überhaupt vorspielen? Du hast mir deine Probleme anvertraut... und ich dir jetzt meine. Bitte... verrate mich nicht. Dann- dann halte mich eben für durchgeknallt, das macht mir nichts aus... aber... aber lass mich wenigstens gehen! Ich spüre, dass mir die Zeit davonläuft...“
Seine Hand ruhte immer noch auf der Türklinke.
Sollte er seine Befehle verweigern? Eine fremde Frau gehen lassen, damit sie einen der größten Feinde der Engel suchen konnte? Was wäre, wenn der Prinz nach seiner Rückkehr nicht Frieden zwischen Azamuth und Desteral schloss, sondern alles verschlimmerte?
Und doch spürte Lyze ein starkes, noch nie dagewesenes Bauchgefühl. Es drängte ihn, eine Entscheidung zu fällen. Die für ihn Richtige.
Schwer seufzte er, als seine Hand nun endgültig von der Klinke glitt.
Zeitgleich hielt sich Sari eine Hand an die Stirn. Sie wusste, dass es für sie nicht gut aussah, wenn sich ihr Aufpasser nicht überreden ließ. „Ich weiß nicht, was weiter passiert, wenn die Engel das erfahren, aber-“
„Du willst es nicht wissen.“, in seiner Entscheidung nun sicher, trat er zurück zu Sari, „Ob Wahrheit oder nicht. Den Boden Desterals würdest du mit Sicherheit nicht so schnell wieder betreten können.“, und bot seine Hand zum Aufstehen an. Von Lyzes Art und ihren verborgenen, manipulativen Fähigkeiten erstaunt, griff die junge Frau wortlos nach ihr und ließ sich hoch helfen. „Du weißt hoffentlich, Sari, dass ich dafür vor das Kriegsgericht gestellt werden kann...?“
„Für was?“
„Dass ich dich laufen lasse.“
„Wirklich!? Oh danke!“, sie drückte ihn vor Begeisterung, „Du bist der tollste Halb-Dings überhaupt! Danke, danke, danke!“
„I-ist gut-“, gespalten durch eine Mischung aus Freude und peinlichem berührt Sein, befreite er sich aus ihrem Griff.
„Folge mir nach draußen, aber unauffällig... als wären wir mit den Informationen auf dem Weg zum Kommandeur.“
Sari nickte darauf eilig und kam ihm sogleich nach. Niemals hätte sie gedacht, hier einen Freund zu finden. Einen, der sie trotz ihres schon fast verbrecherischen Wissens laufen ließ. Wer weiß, welche Gründe Lyze für seine Entscheidung hatte? Es war fraglich, ob tatsächlich nur das Ärgernis über die Engel den Auslöser dafür bildete.
Vor dem Gebäude, in dem die Lichtsoldaten einquartiert waren, blieben Sari und ihr Aufpasser stehen. Schon bei Ihrer Ankunft hatte sie das gewollt. Sich alles in Ruhe ansehen – denn was für Lyze selbstverständlich war, war Sari völlig fremd: mit Blumenkränzen verzierte Laternen, die nur mithilfe von Lichtmagie im Inneren erstrahlten. Weißer Rasen, als wäre der Boden mit Schnee bedeckt. Die Wege mit weißem Marmor gepflastert, hier und da ein Zierspringbrunnen mit klarem, blauen Wasser. Blickte man gen Himmel, kreisten die Wolken oberhalb einer mit Gold verzierten Glaskuppel. Abgesehen davon, dass Engel echte Spießer waren, war ihr Zuhause wunderschön. Wir würden sagen: es kam dem griechischen Baustil ähnlich.
Doch es war keine Zeit, sich alles im Detail anzusehen – Lyze berührte die Frau an der Schulter, um sie darauf hinzuweisen, dass sie leider weitergehen mussten. Allerdings begann er, bei Saris enttäuschten Blick, nach einem Seufzer über das Reich der Engel zu erzählen:
Die Geschichte der Engel reichte weiter zurück, als die der menschlichen Einwohner Desterals. Bereits zu Zeiten der ersten Besiedelung lebten sie auf ihren fliegenden Inseln und blickten hinab, auf die abergläubischen Ureinwohner. Schon damals waren die Inseln vor den fliegenden Bestien Azamuths, mit denen die Engel stets im Zwist waren, durch gewaltige Kuppeln aus Glas geschützt. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte zierte ein goldener Reif den durchsichtigen Schutz, dessen Erscheinungsbild sich mit der Zeit wandelte. Verzierungen und Gravuren großer Lichtkrieger kamen hinzu. Der Halbengel war sich nicht sicher, doch vermutete er, dass diese zur Abschreckung von Eindringlingen dienen sollten.
Auf den schwebenden Inseln gab es keine frei wachsenden Blumen; der Boden hatte seine eigene, mineralisch anders zusammengesetzte Erde. Darum war es bis heute stets etwas Besonderes, wenn ein Engel seiner angebeteten Dame eine Blume schenkte.
Anders als das Volk, war es dem Adel nicht erlaubt, zu ehelichen, wen man wollte. Zwar wurde es auch unter den Engeln nicht gerne gesehen, wenn ihresgleichen eine Vermählung mit einem Menschen vom Boden eingingen, doch standen den Herrschern nur die stärksten, schönsten und klügsten Engel der Oberschicht zur Auswahl. Dieser Brauch war fest in der Kultur verankert.
Momentan regierte Herrscherin Alaphantasa allein im stattlichen Regierungsgebäude. Sie war bald siebenundzwanzig Jahre alt und damit überreif für ihre Vermählung. Bis jetzt hatte sie sich nicht für einen Herrscher an ihrer Seite entschieden und so fiel die zwanghafte Auswahl des Mannes in spätestens drei Jahren den Beratern zu. Vielleicht war auch das der Grund, weshalb sich Kommandeur Viturin so bemühte, positiv aufzufallen. Lyze kam als Halbengel nie auch nur als Konkurrenz in Frage.
„Das Regierungsgebäude befindet sich am Ende dieser Stufen.“, dabei zeigte er auf die enorm breiten Marmorstufen, die einen langen, flachen Weg den bebauten Hügel hinauf bildeten. Jeweils gespiegelt links und rechts am Ende, standen sich stattliche Engelsstatuen gegenüber. Am Ende der Stufen wartete ein hoher, gusseiserner Zaun mit Torbogen. Dieser war schwer bewacht von abwechselnd vier Lichtsoldaten. Auch standen ranghöhere Engel stets an der Seite der Herrscherin. Nur wenn sie es mit Nachdruck verlangte, war sie für sich alleine.
Bei ihrem Gang durch das Dorf, drehte Sari dem Regierungsgebäude den Kopf nach: „...Denkst du, die Menschen haben auch eine Herrscherin?“
Bei ihrer Frage musste Lyze erst überlegen. Desteral war unter vielen adeligen Häusern aufgeteilt und daher wurde jedes größere Dorf anders regiert. So zuckte er mit den Achseln: „Es gibt sehr viele Herrscher unter den Menschen... das ist auch der Grund, weshalb es Desteral so schwer fällt, sich alleine gegen Azamuth zu behaupten: viele Reiche sind seit Langem wegen unzähliger Kämpfe um Territorien zerstritten. Es würde ihnen bestimmt nicht schaden, hätten sie einen gemeinsamen Herrscher...“, er rieb sich das Kinn, „War das nicht sogar einmal der Fall? Ich bin nicht so gut in Geschichte.“
„Ach? Und mit Glaskuppeln und Ureinwohnern kennst du dich aus?“
„Lichtsoldaten müssen einen Test schreiben, ehe sie für diensttauglich befunden werden...“
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