Als er seine Klinge erhob, hatte zeitgleich Utah den Kommandeur zu Boden gestoßen. Doch anstatt ihn zu erstechen, schmiss er mit aller Kraft seinen Dolch hinterrücks dem Halbengel entgegen – Sari blickte dabei erneut vom Geschehen weg.
Hellgelbe Flügel manifestierten sich am Rücken des Lichtsoldaten. Es geschah so schnell, dass man nur in Zeitlupe hätte sehen können, wie sich zuerst sein linker Fuß drehte, ehe der ganze Körper eine Halbdrehung zur Seite vollzog.
Der Dolch verfehlte sein Ziel. Er blieb in einem massiven Baum stecken, etwas vom Kampfgeschehen entfernt.
Zwei Sekunden; nur so lange dauerte die perplexe Reaktion von Utah. Doch diese Zeit reichte aus, dass der aufgerichtete Kommandeur seine Armbrust erhob, auf dem am Boden liegenden Piov zielte – und in seinen Hals traf. Anders als die Lichtklinge, waren Lichtpfeile speziell „zur Erlösung“ geschaffen. Erreichte auch nur einer sein Ziel, so löste er sich auf, zusammen mit dem getroffenen Dämon.
„Piov!“, Utah konnte nur mehr fassungslos mit ansehen, wie sich sein einstiger Partner vom Hals an, in alle Richtungen, in gelb funkelnde Partikel auflöste. „Piiioov!!“
Völlig verzweifelt stieß Utah den Kommandeur auf den Boden zurück und schlug auf ihn ein: „Du dreckiger Engel! Mörder!! Ich werde-!“ Er hielt inne – der Kommandeur hatte die Armbrust fest in seiner Magengrube angesetzt.
Utahs Augen weiteten sich; ihm wurde klar, dass der Kampf verloren war. Viel mehr noch: er hatte sein Leben verloren. Noch leicht in Panik, schüttelte er leise den Kopf: „Nein... nein, bitte....!“, doch der Kommandeur zog schwach einen Mundwinkel hoch und drückte ab. Als der Pfeil tief in seinem Körper stecken blieb, taumelte Utah noch, in gelben Partikeln funkelnd, nach hinten. Auch, wenn diese Dämonen Saris Entführer waren, empfand sie gewisses Mitleid. Vielleicht, da sie die Männer etwas länger gekannt hatte, als die Engel. Sie drehte ihren Kopf zur Seite, um nicht mitansehen zu müssen, wie sich Utah mit einem Schrei im Nichts auflöste.
Sie hörte die Schritte des Kommandeurs, wie er sich zum anderen Lichtsoldaten bewegte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, glücklich darüber, beide Dämonen vernichtet zu haben, sodass ihm mit Sicherheit eine Belohnung erwartete. „Soldat... Wo ist Linn?“
„Zurückgeblieben, Kommandeur Viturin [Wi-tu-rin].“, war die Antwort, mit sanfter Stimme. „Sie sagte, sie fühle sich nicht wohl... ich vermute, aus dem selben Grund wie heute morgen.“
„Hat sie ein Formular zur Freistellung des Dienstes ausgefüllt?“
Der Halbengel nickte. „Es sollte in Eurem Quartier vorliegen.“
„Gut.“, der Kommandeur sah kurz zu Sari, die immer noch im Gras saß. Anschließend zückte er einen Notizblock und schien etwas aufzuschreiben.
Seinem ersten Blick gefolgt, beschloss der ihm untergebene Lichtsoldat auf die junge Frau zuzugehen. Seine Mimik änderte sich nicht. Kein Lächeln, keine beruhigende Geste. Allein seine hellgelben Flügel begannen sich aufzulösen; Saris Augen wurden bei dem Anblick etwas größer.
„Was wollten die Dämonen von dir?“ – na so was, keine Höflichkeitsform?
Bei seiner Frage plusterte Sari ihre Backen auf – und griff sich nachher auf die schmerzende Wange. „Au-! Eh- Keine Ahnung, was weiß ich.“
Als Reaktion auf ihre unhöfliche Antwort zog der Halbengel die Augenbrauen zusammen: „Du warst mit ihnen unterwegs und stehst unter Verdacht, zu ihnen zu gehören – du solltest es daher wissen.“
„Iiich?“, sie schmunzelte, so gut es ging, „Seh' ich aus, wie ein Dämon? Die Kerle wollten mich entführen! Doch ich habe, ganz ehrlich, keine Ahnung, warum das Ganze! ...Auch weiß ich nicht, wieso ihr sie töten musstet.“
„Das spricht nicht gerade für dich... sie handelten in bösen Absichten.“
Böse...? Das war in Saris Augen reine Ansichtssache.
„DU bist böse!“
„W-“, er war tatsächlich perplex. „Was soll das denn jetzt? Beginnst du einen Streit-?“
„Du hast doch angefangen!“
Ehe das Verhör eskalierte, fiel Kommandeur Viturin ins Gespräch: „Dämonen nehmen keine Gefangene.“, er näherte sich, nun doch mit Interesse für Sari. „Es ist äußerst selten, dass Menschen entführt werden. Es muss daher einen triftigen Grund für eine Entführung geben. Das, oder...“, er schmunzelte, leicht amüsiert über seinen Gedanken, „Oder du bist gar kein Mensch.“
„Das ist doch lächerlich....!“, sie deutete auf ihre Backe, „Indiz eins: rotes Blut!“
„Irrelevant. Vampire haben ebenso rotes Blut.“
„Und ich hab' keine Stacheln!“
Dem Halbengel entfloh ein Seufzer: „Du weißt nicht viel über Dämonen, oder?“
„Nein, ich weiß nichts über sie... ich weiß ja nicht einmal, wer ich bin...“, als Sari den Kopf senkte, schien sich die Mimik des Lichtsoldaten zu lockern.
„In diesem Fall müssen wir Sie bitten, uns zu begleiten.“, so der Kommandeur, „Paragraph fünfundvierzig, Absatz zwei schreibt vor, jegliche Unklarheiten zu beseitigen, bis die Wahrheit aufgedeckt wurde.“
„Was?“
„Sie könnten sowohl Opfer, als auch Mittäter sein.“
Nun griff sich Sari an die Nasenwurzel. Diese Bürokraten hielten sie wirklich für einen Dämonen?
„Na schön-“, ihr kam eine Idee, „Würde das Bild des Mittäters abschwächen, wenn ich euch etwas über diese Typen verrate?“
„Eventuell.“
„Es waren drei.“
Überrascht drehten die Engel den Kopf.
„Es waren drei: zwei Männer und eine Frau mit hässlichem Charakter. Sie ist abgehauen, ehe euer Lichtdings auftauchte. Sie redete etwas von 'Das Lager ist nicht mehr weit' und 'Ich schicke Hilfe'.“
Nun sahen sich beide beratend an – wenn das stimmte, war eine ganze Schar an Dämonen unterwegs hierher. So nickte Kommandeur Viturin, doch etwas dankbar. „In Ordnung. Bitte folgen Sie uns.“
„Was, noch immer!?“
„Das ist Vorschrift. Fügen Sie sich, oder wir sind gezwungen, Ihnen Handschellen anzulegen.“
„Oooh mann...“
„Soldat.“, der Kommandeur wartete, bis sich der Halbengel zu ihm gedreht hatte, „Ich übertrage Euch die Verantwortung für die mutmaßliche Verdächtige. Ich muss in die höhere Etage, um weitere Vorgehensweisen bezüglich unserer Zone zu besprechen.“
In aller Höflichkeit verbeugte sich der Lichtsoldat vor seinem Vorgesetzten, „Sehr wohl.“, und vernahm gleichzeitig seine innere Stimme, die zu sagen schien: 'Das war so offensichtlich...'
Bei seinem erstmaligen trockenen Blick, lächelte ihm Sari freundlich entgegen. Wie schön es doch nicht war, an solchen Tagen neue Bekanntschaften zu machen.
Das Pflaster unter Saris Fingern knisterte, als sie über ihre Wange strich. Es war ein eigenartiges Gefühl, etwas im Gesicht kleben zu haben. Doch eigentlich war sie dankbar; hatte doch das fremdartige Volk ein gutes medizinisches Wissen und die Vorschrift, jede „in Gewahrsam genommene Person“ zuerst zu untersuchen. Im Grunde genommen bedeutete dies nichts anderes, als strikte Überwachung. Die junge Frau durfte keinen Schritt im Freien machen, ohne dass sie ein Aufpasser begleitete.
Wie gut, dass sie nicht im Freien war.
Der Halbengel hatte sie in seinem Quartier mit einem schmackhaften Kuchen zurückgelassen, um in Ruhe zu duschen. Es trennte sie nur eine Wand – und außerhalb des Zimmers lag seines Wissens nach ein Gang voll von Wachen. Sollte die Menschenfrau versuchen, zu flüchten, hätte man das sofort bemerkt.
Ihr Kuchen war bereits nach fünf Minuten verschwunden – und sie hatte immer noch Hunger, als hätte sie seit Wochen nichts gegessen. So saß Sari auf dem weichen Bett, wippte schnell wieder gelangweilt mit den Beinen, und kratzte an dem Pflaster. Ach, wie öde es war, in Gewahrsam zu sein.
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