Nun begann sich der kleinere Mann namens Utah einzumischen: „Lydia [Leidia], stellst du etwa das Wort des Herren in Frage!?“
Sari, die vor Angst Grashalme unter ihren Händen nahezu zerquetschte, fand diese Gestalten plötzlich gar nicht mehr so unheimlich. Sie wirkten auf den ersten Blick richtig boshaft und erschreckend, doch bei näherer Betrachtung hatten sie, wie alle intelligente Lebewesen auch, Charakterzüge, Gefühle und vielleicht sogar Hobbies. Einzig ihr seltsames Aussehen brachte die junge Frau zum Nachdenken.
Sie waren anders.
Sari hatte weder Flügel am Rücken, noch Hörner oder fahle, violette Haut. Das konnte durchaus beängstigend sein.
Beängstigend... dachte sie sich. Dabei drängte sich ihr ein tiefes, inneres Gefühl auf. Hatte sie doch plötzlich die Eingebung, dass diese Gestalten so gar nicht an den Ort passten... als wären sie nicht aus diesem Land.
Leise flüsterte ihr, unter Kopfschmerzen, die männliche, innere Stimme entgegen: „Dämonen...“
„Dämonen!“, Sari schlug aus heiterem Himmel die Hände vor ihr Gesicht. Als die Gruppe verständnislos zu ihr blickte, zeigte sie, mit zittrigem Finger, direkt auf die drei Gestalten: „I-ihr seid alle Dämonen!“
Es brauchte einen kurzen Moment, ehe schallendes Gelächter die Stille brach. Diese Feststellung einer Gefangenen hatte noch keiner der Anwesenden je erlebt. Sogar der muskulöse Mann lachte laut auf.
„Habt ihr das gehört?!“, lachte die geflügelte Frau, scheinbar mit dem Namen Lydia, „Man kann nichts feststellen, weil einem die dümmsten Lügen aufgetischt werden! 'Ich bin nicht echt brünett', 'ich bin gar keine Frau', 'ich habe noch nie zuvor Dämonen gesehen'. Alles bereits erlebt!“
„Aber-“, Sari versuchte, die Situation zu erklären: „Ich weiß nicht, wer ich bin!“ – was, zugegeben, im schlechtesten ausgewählten Moment geschah.
Wieder verstrichen ein paar Sekunden, ehe die Meute erneut in schallendem Gelächter aufbrüllte.
„Hervorragend! Das erweitere ich auf meiner Liste!“
„Schluss jetzt.“, Utah wischte sich eine Träne weg. „Piov [Piof], nimm sie mit.“
„Geht klar.“ Ohne weiterem Zögern griff der Muskelprotz nach Sari und warf sie über seine Schulter. Zwar strampelte sie, doch war ihr auch bewusst, dass es keinen Sinn hatte, sich gegen alle drei zu wehren.
„Wartet-!“, kopfüber hängend begann Sari auf den Rücken des großen Dämons zu klopfen. Dass er zwei Reihen von kleinen, spitzen Stacheln besaß, versuchte sie dabei zu ignorieren. „Wartet doch! Wohin bringt ihr mich!?“
Die Reise begann mit einem Spaziergang quer durch den Wald. „Du weißt, wo wir hingehen.“, meinte Utah mit Nachdruck, der seinen Kollegen im Anschluss folgte.
„Nein, eben nicht! Woher denn, wenn ich mich nicht einmal selbst kenne!?“
„Jetzt fängt sie schon wieder an.“ Lydia prustete, erneut über Saris Ausreden amüsiert. „Hör' auf mit dem Scheiß, das wird mit der Zeit langweilig.“, sie sah ernst hinter sich, zu ihren Partnern und der Gefangenen. „Und wir hassen Langeweile.“
Der Weg führte die Gruppe an das Ende des Waldes. Vor ihnen lag nun ein weites, nur schwach von Hügeln geformtes Tal. Das Gras war kniehoch und leicht verdorrt. Wohl hatte es, trotz des Windes und der vereinzelten Wolken, schon länger nicht geregnet. Fasziniert vom Anblick dieser endlosen Landschaft, vergaß die junge Frau – zumindest für einen Moment – dass sie unfreiwillig über der Schulter eines Dämonen namens Piov lag.
Da kam ihr etwas in den Sinn.
Die drei Dämonen hielten sie für jemanden... und wenn diese Person nun tatsächlich Sari war?
So begann sie, auf dem Weg durch die scheinbar endlose Wiese erneut zu reden: „Heh – wisst ihr denn, wer ich bin? Habt ihr den Namen Sari-“
Mit einem heftigen Ruck warf der muskulöse Dämon die junge Frau vor sich, in das Gras. Das geschah so schnell, dass Saris Körper ein paar Sekunden brauchte, ehe der Impuls des Schmerzes – im Rücken und Genick – an den Kopf gesendet wurde. „...Aua.“
Wenig überrascht hob Lydia die Schultern an. Dabei ahmten ihre ledrigen Flügel die Bewegung nach. „Sehr schwer von Begriff, was? Du sollst still sein.“
„Ihr müsst mir zuhören-!“
Mit verschränkten Armen stellte die Frau einen ihrer hohen Stiefel auf Saris Bauch – gerade, als sie sich aufsetzen wollte: „Sei still!“
„Hör' auf das, was man dir sagt!“, Utah brummte laut, „Quatsch' dich aus, wenn wir da sind – ich hab' Hunger!“
Sari hätte wissen sollen, wann Schluss sei. Doch der Zorn, welcher sich wie ein Lauffeuer unter der Gruppe verbreitete, steckte auch die Gefangene an: Wie konnte man nur so unfair sein?
„Sind alle Dämonen so nett drauf!? Wahllos Frauen entführen und einfach hoffen, sie sei die Richtige, ja!?“, Sari steigerte sich regelrecht in Rage, „Ihr bringt das sicher schon euren Kindern bei, dass Gewalt und Entführung toll ist! Ich will echt nicht wissen, was in eurem Reich so schief läuft!!“
Lydia, verblüfft und gleichzeitig amüsiert über die junge Frau, prustete grinsend ihren Kameraden zu.
„Lach nur, du Hexe!! Wenn ich hoch komme, nehme ich deinen hochhackigen Stiefel und schieb-“
Mit Vergnügen – zugegeben, mit zurückgehaltener Kraft – trat Lydia gegen das Gesicht der Gefangenen. Es reichte aus, dass sie endlich still war und ihre Verletzung an der rechten Backe mit zugekniffenen Augen hielt. Kurz schmunzelte die Dämonin noch durch die Runde, dann nickte Utah zufrieden. „So. Dann kann's ja weitergehen.“
Während Piov mit seinem schweren, großen Körper nach Sari griff, war Lydia ein wenig voran gegangen. Sie drehte sich im Gehen um und schritt rückwärts weiter: „Was dauert denn da so lange? Beeilung, langsam kriege ich auch Hunger!“, und plötzlich – ihr Schenkel durchschritt einen gelblichen Lichtstrahl, der bei dessen Berührung aufblitzte und verschwand.
Nun ließ Piov die Gefangene liegen. Alle drei sahen sich zwar fragend untereinander an... doch insgeheim wusste jeder, welches Volk – das die Technologie zur Erkennung von Dämonen besaß – sie gerade auf sich aufmerksam gemacht hatten.
„...Was war denn das?“, fragte Piov noch stumpf nach, als ein Glockenschlag zu hören war.
Ein tiefer, langgezogener Glockenschlag. So tief und lang, dass die gesamte Umgebung von seinem Raunen erfüllt war.
Sich immer noch die Backe haltend, sah Sari mit Tränen in den Augen auf. Ihr Tag hatte nicht besonders gut begonnen. Nun fürchtete sie, dass er noch sehr viel schlimmer werden würde. Unsicher, ob sie wieder ins Gesicht getreten werden würde, hauchte sie leise: „W...was... was war das?“
„Engel...“, war Lydias Antwort, ehe der zweite Glockenschlag ertönte. „Wir müssen hier weg!“, sie klatschte in die Hände, um ihre Kameraden anzuspornen, „Los, los, los! Heb' sie hoch! Weg hier, schnell!“
Piov konnte Sari im Loslaufen verkehrt hochreißen, ehe die Gruppe beim dritten Glockenschlag über die Wiese lief.
Sie bewegten sich so schnell sie ihre Beine trugen. Kopfüber konnte Sari die Dämonin wahrnehmen, die ihre Fähigkeit zu fliegen dazu nutzte, schneller voran zu kommen, schneller als ihre Kameraden. Piov kam mit wenigen, dafür großen Schritten nach und Utah hatte mit seinen kurzen Beinen den schwersten Weg vor sich. In ihrem Übereifer hängte Lydia die zwei Dämonen langsam ab. Es entstand eine Lücke zwischen ihnen, die im Laufe der Minuten immer größer wurde.
Schließlich war sie so groß, dass sie der Gruppe zum Verhängnis wurde: ein Lichtstrahl drängte sich zwischen sie, summte leise, ehe er zu einer stattlichen Lichtsäule heranwuchs. Sah man nach oben, ging sie durch die Wolken hindurch und verschwand darin.
Da die Lichtsäule nun die Dämonen von Lydia trennten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben und ihre Waffen zu zücken. Denn die Lichtsäule bildete die Verbindung und den Transportweg zwischen dem Boden von Aira [Eira] und den fliegenden Inseln der Engel.
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