Eigentlich konnte sie froh sein, nur in einer Unterkunft gefangen zu sein. Ginge es nach Kommandeur Viturin, säße sie wahrscheinlich in einem Gefängnis; denn dass Sari in Gesellschaft von Dämonen war, fand er äußerst suspekt. Der Halbengel auch, doch schien er lockerer damit umzugehen. Sari vermutete, dass er erst seit kurzem ein Lichtsoldat war und darum noch keinen so bürokratischen Charakter wie der Kommandeur entwickelt hatte. Wahrscheinlich war er nicht einmal der ernste Geselle, für den er sich ausgab – das musste Sari allerdings erst überprüfen.
Als sie im Zimmer umher sah, erblickte sie nur wenige persönliche Gegenstände: ein Buch über Sagen auf dem Kissen, eine Schatulle auf der Kommode und ein paar Kleiderstücke im Schrank.
Eine Schatulle...?
Die Augenbrauen der Frau zogen sich kurz zusammen; ihre Neugier war so groß, dass sie sich sofort vom Bett erhob und mit leisen Schritten auf die Kommode zuging. In dieser fortgeschrittenen Langeweile hätte sich bestimmt jeder so verhalten.
Zögernd stand sie vor dem verzierten, kleinen Holzkästchen. Sie blickte um sich und lauschte, ob ihr Aufpasser in der Nähe war. Als Sari die Luft für rein hielt, fasste sie schmunzelnd nach dem ungesicherten Schlösschen – mit nur zwei Handgriffen war die Schatulle offen. Vorsichtig hob sie den Deckel an... „Was machst du da?“, und knallte das Kästchen, höchst erschrocken, wieder zu.
„Gar nichts!“, sie drehte sich blitzartig zu dem in ein Handtuch gewickelten Halbengel um. Seine Haare waren durch die Nässe dunkelblond verfärbt. Über Saris Reaktion zog er nur kurz die Mundwinkel nach oben; er ging zum Kleiderschrank, sodass es die junge Frau für besser hielt, sich während ihrer Verteidigung erneut umzudrehen. „E-ehrlich, ich habe nichts gesehen! Äh- i- ich meine in der Schatulle – nein! Ich meinte-“, sie klatschte sich ihre Hände vor das Gesicht. Tief Luft geholt, begann sie noch einmal von vorne: „Ja... ich war neugierig. Aber in dieser langweiligen Bude verständlich. Ich meine – wie kannst du so überhaupt leben? ...Huh?“
Sie nahm etwas Abstand nach links, als der Lichtsoldat neben ihr nach dem Holzkästchen griff – und für Sari den Deckel hob. Erstaunt und doch etwas enttäuscht, blickte sie auf eine kleine Stoffpuppe. Ihre Augen bestanden aus schwarzen Knöpfen, während auf dem runden Kopf viele, einzelne rote Fäden als Haare eingenäht waren. Das kleine Stoffkleidchen war violett, genau wie die Sandalen.
Der Halbengel kam schnell zur Erklärung, während er sein weißes Hemd zuknöpfte: „Sie gehörte meiner Schwester...“
„Gehörte...?“, Sari blinzelte, hielt es aber für besser, vorläufig nicht weiter zu fragen; sein Kopf hatte sich gesenkt, mit einem sehr nachdenklichen Blick.
Erst nach einer Pause seinerseits war ein tiefer Seufzer zu hören, ehe er sich, mit der Puppe in der Hand, auf die Kante des Bettes setzte. Sari blieb stehen und äugte mehr oder minder unbemerkt zu ihm hinüber.
„Du weißt also nicht, wer du bist.“, seine Feststellung kam wieder sehr unerwartet.
„Huh?“
„Das hattest du gesagt. Als Verteidigung, dass du nicht zu den Dämonen gehörst.“
„So ist es auch! Ich bin in einem Wald aufgewacht! Überall lagen Laub und Dreck und mein Kopf hämmerte so intensiv, dass ich kurz Luft schnappen musste, ehe ich mich zu einem See schleppen konnte und mich dort dank des Spiegelbildes an meinen Namen erinnern konnte-“
„Nicht so schnell-“, er schmunzelte ihr zu, „Man versteht fast kein Wort. Also, wie heißt du?“ War das eine Masche, um ihr Vertrauen zu gewinnen? Wollte er so die vom Kommandeur befohlenen Informationen aus ihr heraus locken?
Es war Sari egal. Sie freute sich, dass ihr endlich ein wenig Höflichkeit entgegen gebracht wurde: „Sari.“
„Sari? ...Und weiter?“
„Nichts weiter. Ich kann mich nur an den Namen Sari erinnern...“
„Ein sehr kurzer Name... bist du dir sicher, dass er keine Abkürzung ist?“
„...Ich weiß es nicht. Uhm...Wie ist denn dein Name?“
„Lyze. Lyze Nosheiru [Leis Noscheiru].“
Saris Blick wurde trockener. „Und dein Name ist länger als meiner?“
Er schmunzelte darauf: „Nur der Nachname.“
„Hm.“, die junge Frau starrte auf ihre Füße. War er nun wirklich freundlich? Oder war alles nur gespielt? Kurz dachte sie darüber nach, wie Lyze vor Piov gestanden ist und es nicht fertig gebracht hatte, ihn zu erschlagen. Er hatte sich dadurch in Gefahr gebracht... allein seine gute Reaktion hatte ihn gerettet. Das konnte nicht gespielt sein. Das war... Mitleid.
„Woran denkst du?“
Sari sah bei seiner Frage zu ihm auf – und lächelte. „Ach, nichts... ich frage mich nur... na ja. Als du vor-“, sie stoppte, bei dem Gedanken daran, dass es verdächtig wäre, Piovs Namen zu kennen, „Als du die Gelegenheit hattest, den großen Dämon zu töten und es nicht getan hast... hattest du da Mitleid?“
Sein freundliches Gesicht verzog sich schlagartig: „Ich hatte kein Mitleid. Nicht mit einem Dämon.“
„Nein, natürlich nicht.“, Sari klang sarkastisch, auch, wenn sie ihn eigentlich beruhigen wollte. „Du hast deinem Engelsfreund den Vortritt gelassen, damit er den Lohn einsacken kann. Sehr freundlich von dir!“
„Was soll das denn heißen?“
„Du hattest Mitleid.“
„Nein!“
„Ok – dann Fall Nummer zwei: du hast noch nie etwas getötet.“
„Ich habe schon oft getötet!“, er senkte den Blick, „...Nur noch nichts Intelligentes...“, dann schüttelte der den Kopf, „Und Viturin ist auf keinen Fall ein Freund! Ein kalter, rücksichtsloser Vorgesetzter, der nicht einmal-!“
Nun sah Sari auf – hatte sie gerade einen wunden Punkt getroffen?
Lyze griff sich auf die Nasenwurzel und kniff seine blauen Augen zusammen. Nach einem Moment der Überlegung sah er wieder zu Sari: „Hier geht es nicht um mich. Was hatten die Dämonen mit dir vor?“
Da war er: der eigentliche Grund der Unterhaltung. Doch wusste Sari es nicht. Nicht im geringsten. Die Dämonen hatten es ihr nicht verraten.
Aber das wusste der Halbengel wiederum nicht. So schmunzelte sie und drehte den Spieß um: „Ich sage dir erst, was ich weiß, wenn du mir verrätst, was für Probleme du mit deinem Vorgesetzten hast.“
Lyze blinzelte. „Wie bitte?“
Arme verschränkt ging sie ein wenig durch den Raum: „Ganz einfach: Du scheinst unverarbeitete Probleme zu haben. Klar – das geht mich nichts an. Aber meine Probleme gehen auch niemanden etwas an, oder? Laut diesem Bürokraten-Müll scheinbar doch, weil meine Entführer in euer Revier gestolpert sind. Aber du, als junger, neuer, Halb-Dings, scheinst zu verstehen, dass da ein bisschen mehr dahinter steckt, als nur der Gewinn von Informationen.“
Ein bisschen mehr...? Lyzes Miene verzog sich zu einem trockenen Lächeln: „Oder ich sperre dich in eine Arrestzelle, bis du dich entscheidest, zu reden.“
„Ja~“, Sari trat zu ihm und hob den Zeigefinger, „A~ber das wirst du nicht. Dafür hast du bereits zu viel über deinen Charakter verraten.“
Nun sah er sie mit gesenkten, starren Blick an. Für eine Frau ohne Erinnerungen hatte sie enorme Menschenkenntnisse. Vielleicht hatte sie es genau auf diesem Weg geschafft, bei den drei Dämonen zu überleben – er sah auf ihr Pflaster im Gesicht – ...oder auch nicht.
„Einverstanden.“
„Was, wirklich?“
„Ja, in Ordnung.“, er klopfte neben sich auf das Bett, „Ich werde dich nach deiner Entlassung vermutlich nie wieder sehen – daher ist es egal. Hauptsache, es beschleunigt den Informationsaustausch.“
Als sich Sari setzte, sah sie etwas enttäuscht aus. Doch schon im nächsten Moment lächelte sie: „Es ist sehr gut, über seine Probleme zu reden! Je öfter, desto besser.“
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