„Piov, Utah!“, rief die Dämonin, die trotz ihrer Eile kurz zum Stehen kam, „Haltet durch! Das Lager ist nicht mehr fern, ich schicke Hilfe!“ Mit diesen Worten und einer Portion von Angst – Angst um ihre Kameraden – flog sie erneut los, so schnell sie konnte.
Piov und Utah blieben zähneknirschend zurück. Als die erste Gestalt in der Lichtsäule sichtbar wurde, ließ der kräftige Dämon Sari fallen.
„Alles klar, Piov. Was auch geschieht, lass das Mädchen nicht aus den Augen.“, schnaufte der Kleine, „Das Engelspack darf sie auf keinen Fall erwischen.“
„Klar, Utah.“
Ein Mann in5 weißgoldener Rüstung berührte den Boden. In seiner Hand eine aus Licht manifestierte Armbrust, an seinem weißen Gürtel ein Schwert. Ein blonder, geflochtener Zopf lag über seiner Schulter und endete vor seiner Brustrüstung. Ein Stirnband, in den Farben der Rüstung, unterstrich seinen höher gestellten Rang als Lichtsoldat. Als sei das für Dämonen völlig fremde Erscheinungsbild nicht genug, erstreckten sich am Rücken des Mannes großgewachsene, grellweiße Federschwingen.
Es war seine Aufgabe, dieses Gebiet mit zwei weiteren Engeln zu kontrollieren. Anders als seine Kollegen, hatte er die Position eines Kommandeurs und wechselte routiniert die verschiedenen Tätigkeiten mit weiteren Gleichgesinnten seines Ranges.
Mit prüfenden Blick musterte er die Eindringlinge. Seine Stirn legte sich in Falten, als seine hellblauen Augen Sari entdeckten. Doch schon im nächsten Moment richtete er das Wort an die Dämonen: „Ihr seid weit in ein für euch gesperrtes Territorium eingedrungen. Ihr wisst hoffentlich, dass für Dämonen keine Form von Verhandlungen vorgesehen sind. Eure Exekution steht bevor.“ Ganz nach Vorschrift hob der Engel die zweite Hand, in der Handschellen aus purem Licht erschienen. „Ich nehme euch in Gewahrsam. Legt die Waffen nieder und folgt mir.“
War das sein Ernst? Selbst Sari hob bei diesen Worten eine Augenbraue.
So begann Utah zu prusten, während Piov schon längst lachte: „Dummer Engel redet dummes Zeug!“
„Wir sollen dir stillschweigend folgen? Ehrlich!? Bei Ath'ar, Piov, ich glaube, das ist sein Ernst!“
In dieser Lage war leicht nachvollziehbar, dass Sari eine minimale Chance auf Rettung sah. So übel konnte dieser bürokratische Engel für sie gar nicht sein – er war ein Feind der Dämonen und damit ihr Freund. So rief sie, so laut sie konnte, um ihren Standpunkt klar zu machen: „Hiiilfe! Ich werde entführt! Nehmt mich mit!“
„Nu-uh!“, Utah verteidigte mit einem Kopfschütteln die Situation: „Sie lügt, sie gehört zu uns!“
„Oh ja, weil man Vertraute auch ins Gesicht tritt!“
„Das waren wir nicht!“
„Schluss jetzt.“, der Kommandeur machte einen Schritt nach vor, aus der Lichtsäule heraus. „Legt eure Waffen nieder, oder ihr werdet sofort exekutiert.“
Die Mimik der Dämonen verzog sich zu einem finsteren, selbstsicheren Grinsen. Wenn sie eines verstanden, dann war das die Sprache der Schlacht.
„Dann komm doch und greife an, du Huhn.“
Als der Engel den Spott hörte, fixierte er die Dämonen. Seine Verhandlungsversuche waren völlig zwecklos. Was hatte er, aus der Perspektive seines Volkes, aber auch anderes erwarten können? Mit einem leisen Seufzer lösten sich die Handschellen im Licht auf. Als er nach dem Griff seines im Gürtel ruhenden Schwertes fasste, sprangen die Eindringlinge in Kampfpose um – blitzartig zog Sari daraufhin den Kopf ein und kroch vorsichtig zur Seite.
Doch der Kampf ließ noch auf sich warten.
Anstatt anzugreifen, starrte sie der Kommandeur weiterhin an. Was hatte er vor? Wollte er Zeit schinden, oder die Dämonen einschüchtern? Wie auch immer seine Pläne aussahen, Utah wurde mit jeder Sekunde ungeduldiger.
Es dauerte nicht lange und der kleine Mann hüpfte von einem Bein auf das andere, brennend darauf, endlich Blut zu sehen.
Die Ungeduld in ihm wurde so groß, dass er begann, auf den Engel zu zustürmen und währenddessen seinen Dolch zog. Seiner evolutionären Prägung folgend, faltete der Kommandeur als Drohgebärde seine Federflügel und wich zurück, als Utah immer wieder seine Waffe gegen ihn schwang.
Sari krümmte sich klein zusammen, als Piov mit schweren Schritten über sie hinweg sprang, hin zu einem Baum. Nach dem Motto: wer keine brauchbare Waffe hat, erarbeite sich eine, oder reiße sich, wie in Piovs Fall, einen dicken Ast ab und knicke ihn noch einmal am anderen Ende, um einen spitzen Speer zu erhalten.
Während nun der Engel mit dem Abwehren von Uthas Schlägen beschäftigt war, fiel ihm der große Dämon sprichwörtlich in den Rücken und holte zum gewaltigen Angriff aus – Sari kniff die Augen zu, denn ihre Hoffnung auf Rettung sank dabei deutlich.
Eine Windböe schnellte herbei.
So scharf, dass sie Piov den Ast nicht nur aus den Armen riss, sondern ihn auch noch zersplitterte. Den festen Druck und somit den danach aufkommenden Wind konnte dabei selbst Sari noch spüren.
Kaum schlug die Frau die Augen auf und suchte die Herkunft der plötzlichen Böe, wurden die Konturen eines weiteren Engels in der Lichtsäule deutlich. Ebenso in fester, weißgoldener Rüstung, berührte der junge Lichtsoldat den Boden. Seine Haare waren kürzer als die des Kommandeurs – leicht durcheinander bis zur Schulter – und ebenfalls blond. Aus seinen tiefblauen Augen blickte die melancholische Seele eines zwanzigjährigen Mannes, der bereits in seinen jungen Jahren zu viel erlebt hatte. Außerdem gab es einen entscheidenden Unterschied zu seinem Kommandeur: es fehlten Flügel.
Dieser war, wie man sich vielleicht denken konnte, über sein verspätetes Eintreffen nicht gerade erfreut. Zwar hatte ihm der junge Lichtsoldat das Leben gerettet, doch starrte er ihn trotzdem beschuldigend an.
„Hah! Ein halber Engel!“, Utah schwang auch weiterhin sausend seinen Dolch, den der Kommandeur mit seinem Schwert abwehrte, „Piov! Los, schnapp' ihn dir!“, und grinste, da sein Feind kurzzeitig das Gleichgewicht verlor. „Hau' ihn zu Brei!“
„Ja, Utah.“, mit tiefer Stimme grollend, stampfte der große Dämon auf den neu erschienen Lichtsoldaten zu. Mit bloßer Faust holte er aus und testete, gleich nachdem der Halbengel den Boden berührte, seine Wendigkeit. Tatsächlich wich er unter den Füßen des großen Dämonen durch – es erschien eine Schneide aus purem Licht in seiner Hand – und zog seine Waffe an Piovs Bein vorbei. Der Dämon knickte mit lautem Gebrüll ein, ehe er seinen Oberkörper drehte und den Lichtsoldaten hinter ihm zur Seite schlug – nur gut für diesen, dass er eine Rüstung trug.
Er war dabei sich aufzurichten, als Piov, sauer über die Schnittwunde an seinem Schenkel, erneut mit der Faust von oben kam.
„Pass auf!“, Saris Hoffnung war langsam am Zurückkehren, sodass sie versuchte, die Engel moralisch zu unterstützen.
Auf ihren Ausruf hin, schmiss sich der Lichtsoldat noch einmal flach ins Gras und rollte sich zur Seite. Piovs Schlag ging erneut ins Leere; seine Wut stieg und mit ihr seine Aggression. „Wrrrwaaahh! Dummer Mensch, sei ruhig!“, nun seinen Zorn gegen Sari gerichtet, stampfte er mit großen, schnellen Schritten auf sie zu. Sari sprang dabei selbstverständlich auf und lief, kreischend, vor ihm davon.
Schnell die rechte Hand erhoben, entfesselte der Halbengel eine erneute Windböe, die Piov den verletzten Fuß zur Seite riss, sodass er mit einer Erschütterung des Bodens auf die Nase fiel. Die junge Frau war dabei selbst gefallen und blickte zum Dämon, der hinter ihr grimmig schnaufte.
Sich in Sicherheit wiegend, ging der junge Lichtsoldat auf Piov zu und ließ erneut seine Lichtklinge erscheinen.
Sah Sari in sein Gesicht, so konnte sie eine Art der Trauer wahrnehmen.
Empfand er etwa Mitleid für den Dämon?
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