Peter Schmidt - 2999 - DAS DRITTE MILLENNIUM

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(Aus einer wissenschaftlichen Prognose des Jahres 2318). – – – Während andere Kontinente noch Dreck in die löchrige Atmosphäre pusten, herrscht in der grünen Republik Europa grenzenloser Optimismus, hat man doch eine ökologische High-Tech-Diktatur errichtet, Fleischverzehr ist verboten. Gegner des Systems werden in sogenannte Gullys verbracht, das sind im Volksmund geheime Internierungslager, weil sie tief unter der Erde liegen und den «Abschaum der Gesellschaft» beherbergen – so jedenfalls die Propaganda. Den Gerüchten nach handelte es sich um bis zu dreißigstöckige Betonbauten in etwa fünfzig Metern Tiefe, mit geheimen Zugängen. Privilegierte dagegen konsumieren heimlich Emo, das entdeckt worden war, als man die chemische Struktur der Emotionen entschlüsselt hatte. Es versetzte das Nervensystem in die Lage, unangenehme Gefühle ab- und angenehme Gefühle einzuschalten. Um die Machtposition im Konzert der Supermächte zu stärken, soll Europa von Japan im Austausch mit grüner Zukunftstechnologie den Schlüssel zur Kryptologie erhalten. Deshalb wird einem Boten ein unschätzbar wertvoller Programmcode implantiert. Auf dessen Spur heften sich der Privatdetektiv Ammer und ein Killerteam, um in den Besitz des wertvollen Codes zu kommen. – – – PRESSESTIMMEN: «Der Westfale Peter Schmidt ist als erster deutscher Autor erfolgreich ins angloamerikanische Thriller-Monopol eingebrochen.» (Capital)

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Für viele politische Beobachter war das allerdings ein rein taktisches Spiel. Er spekulierte dabei auf die Stimmen der Einwanderer. Die Machtblöcke hatten sich der Globalisierung und dem Verdienstgefälle in den vergangenen Jahrhunderten durch eine rigorose Zoll- und Abschottungspolitik entledigt, aber die großen Probleme waren geblieben: Klimaverschiebungen, Umweltprobleme, erschöpfte Ressourcen und Überbevölkerung.

Dupin ließ sich in einen der großen Sessel fallen, die aussahen wie der vorsintflutliche Zahnarztstuhl meines Genetikers. Er betrachte den Bildschirm an der Wand, über den Zahlenkolonnen liefen.

Die Zahlen zeigten an, dass das Rechenzentrum im Haus mit allen großen Rechenzentren weltweit kommunizierte. Im Grunde waren die Zahlen nichts weiter als Daten für Worte, Töne und Bilder, wenn auch wie immer codiert.

„Das ist kein Regierungsrechner, oder?“, sagte Gerald Dupin. Er warf uns einen argwöhnischen Blick zu.

„So? Wie kommen Sie denn darauf?“, fragte Rita. Sie hatte ihren weißen Kittel angezogen und sah wieder mal hinreißend aus – jedenfalls für eine heruntergekommenen Brüsseler Detektiv, der seit Monaten ohne Frau auskommen musste.

„Sie wissen doch, dass ich Sekretär im Außenministerium war – Abteilung Datenverschlüsselung?“

„Na und?“, fragte Rita. Sie zog den aufgerollten Stecker aus dem Rechner, um ihn an die Zentraleinheit hinter Dupins Ohr anzuschließen.

Dupin drückte unwillig ihre Hand weg. „Moment noch … Bei jedem autorisierten Regierungsrechner erscheint auf der obersten Zeile der neuen Nachricht ein Autorisierungscode, habe ich recht?“

„Niemand bestreitet, dass Sie recht haben, Dupin. Wahrscheinlich hatten Sie sogar mehr als einmal recht in Ihrem Leben.“

„Und – wo ist der Code?“, fragte er. „Ich sehe nichts.“

„Gott, sind Sie ein schwieriger Patient“, sagte Rita. „Er ist in den Hintergrund geschaltet, damit nicht jeder hergelaufene Einbrecher sofort erkennt, dass es sich um Regierungsdaten handelt. Man muss doch nicht mit der Tür ins Haus fallen, oder?“ Sie gab ein paar Zahlen ein, und der Code tauchte wie gewünscht in der obersten Zeile der Datenseite auf.

„Na, sind Sie nun zufrieden?“

„Allerdings … Wissen Sie, dass Sie eine hübsche Figur haben?“ Dupin legte seinen Arm um ihre Hüfte.

„Hände weg …“

Rita klinkte den Stecker hinter Dupins Ohr ein. Dann ging sie hinüber zum Schaltpult, und ich folgte fasziniert dem Spiel ihrer Finger auf der Tastatur.

Auf dem Bildschirm an der Wand erschien das Konterfei der Präsidentin. Raoul Weber war um die Fünfzig und nicht gerade der mütterliche Typ, den sich die Feministinnen vielleicht aus wahltaktischen Gründen gewünscht hätten. Aber bei ihrer politischen Vergangenheit war sie auch als Frau immer noch interessant, sah man einmal von den Raffinessen der Bildbearbeitung ab.

Das Foto zeigte sie als strahlende Wahlsiegerin des ersten Matriarchats der modern Geschichte: Mittel- und Zeigefinger der rechten Hand zum Siegeszeichen erhoben und von jungen, streng dreinblickenden „Lehrerinnen“ umgeben, die ihre Regierungsmannschaft bildeten. Danach folgte ein kurzer Hinweis auf die Datenbank der Regierung, die jedem Strafe androhte, der unberechtigt ins System eindrang.

Anschließend signalisierte eine kurze Meldung, dass Gerald Dupin zum Kreis der Berechtigten gehörte. Er wurde über die Muster seiner DNS identifiziert.

Die Desoxyribonukleinsäure als in allen Lebewesen vorhandener Träger der genetischen Information mit der Fähigkeit zur DNS-Replikation besteht – wie jedes Kind in der Schule lernt – aus zwei spiralförmig angeordneten Ketten von Nukleotiden, die durch vier verschiedene, sich in unterschiedlicher Reihenfolge wiederholende Basen über Wasserstoffbrücken in der Kopplung Adenin-Thymin und Guanin-Zytosin miteinander verbunden sind. Die Basenfolge bestimmt dabei den genetischen Code.

Bei Dupin war der größere Teil der Erbinformation durch einen Code abgesichert, der auf einer zusätzlich eingefügten Basenfolge basierte – und auch die Stelle in seiner DNS, die den Codeschlüssel zum neuen Datenübermittlungssystem „EPOS-X“ enthielt, war mit diesem Schlüssel abgeschirmt.

„Okay Gerald“, sagte Rita. „Wir sind bereit …“

„Bereit wozu?“, erkundigte sich Dupin. Er schien darauf zu warten, dass sie ihre Arbeit ganz ohne seine Hilfe erledigte.

„Geben Sie mir Ihre Zugangsinformationen?“

„Sie meinen den Code für EPOS-X?“

„Deswegen sind wir hier …“

„Ich dachte, Sie würden nur meine Daten auf Fehler untersuchen?“

„Richtig – und dazu brauchen wir den Zugangscode.“

„Das war nicht abgemacht, oder?“

„Ich bitte Sie, Gerald“, mischte ich mich ein. „Sie sind doch kein Anfänger. Sie wissen genauso gut wie Rita und ich, dass es nicht möglich ist, ohne Code Ihren Datenbestand auf Fehler zu untersuchen. Das ist genauso, als wenn Sie Ihrem Arzt bei einer Herzuntersuchung nicht gestatten würden, ein Katheter einzuführen.“

„Katheter sind Technik von vorgestern. Ich dachte, Sie hätten eine andere Methode, um den Fehler zu finden?“

„Nein, haben wir nicht“, sagte Rita. Sie verschränkte ihre Arme und wandte sich langsam auf dem Drehstuhl nach ihm um.

Dupin zog den Stecker aus seinem Kopf und legte das Kabel vor sich auf den Tisch.

„Tut mir leid, dazu bin ich nicht autorisiert.“

„Lieber Himmel, Dupin …“, sagte Rita. „Ich dachte, das hätten wir alles längst am Flughafen geklärt! Was wollen Sie denn noch alles, um Ihren verdammten Argwohn loszuwerden – dass Raoul Weber Ihnen im Bett höchstpersönlich ins Ohr flüstert, wir müssten Ihren Code überprüfen?“

„Von meinen Daten hängt das Schicksal der freien Welt ab. Sie wissen, dass dieser englische Hacker … wie war noch gleich sein Name?“

„Winston Hare …“

„… Hare erst vor einem Jahr nachgewiesen hat, dass alle gegenwärtigen digitalen Nachrichtenverschlüsselungssysteme geknackt werden können. Man benötigte dafür nur die neuesten Hochleistungscomputer und das chinesische Dechiffrierungssystem Qin . Was war die Folge dieser katastrophalen Entdeckung?“

„Der Zusammenbruch des Weltwirtschaftssystems“, sagte ich.

„Wenn’s nur das gewesen wäre“, seufzte Dupin. „Eine Gesellschaft ohne sichere Datenübermittlung ist keine Gesellschaft mehr.“

„Dafür haben wir jetzt EPOS-X, oder?“, fragte ich mit treuherzigem Blick.

„Wenn ich’s nicht gerade an eine paar dahergelaufene Regierungsbeamte weitergebe …“

„Also gut Rita, ich glaube, ich hab langsam genug von deinem kleinen schwarzen Liebling. Schaffen wir ihn doch einfach zurück nach Brüssel in die Regierungszentrale. Soll seine kleine feministische Gespielin im höchstpersönlich erklären, dass es sich um einen Notfall handelt. Ich werd’ mir jedenfalls nicht mehr den Mund deswegen fusselig reden“, sagte ich und erhob mich von meinem Sessel …

„Was soll denn das nun wieder heißen?“ fauchte Rita. Sie baut sich breitbeinig und mit in die Hüften gestützten Armen vor mir auf. “Du kannst mich doch jetzt nicht mit diesem Kerl zurücklassen!“

„Doch, kann ich“, sagte ich und legte militärisch grüßend meine Hand an die Schläfe.

Dann verließ ich unmerklich lächelnd und mit wohlkalkulierten, gemessenen Schritten den Raum.

4

Ich ging ins Nebenzimmer, um mir durch den durchsichtigen Wandspiegel anzusehen, ob unsere neue Theateraufführung Erfolg hatte.

„War das ernst gemeint?“, hörte ich Dupins Stimme über den Lautsprecher.

„Keine Ahnung. Fragen Sie mich nicht, was in den Köpfen dieser Regierungsarschlöcher vorgeht“, sagte Rita. „Vielleicht hat er gerade Druck und will möglichst schnell zurück in sein Brüsseler Bordell …“

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