Er hatte eine liebenswerte Ausstrahlung, falls man das bei jemandem, der einem für den Rest seines Lebens das Gebiss ruinieren könnte, überhaupt sagen kann. Im Schaukasten an der Wand lag die neueste Generation von Goldchips zur Genreparatur.
„Mund auf“, sagte er. „Mund zu – Mund auf – ah, ja.“ Und so ging es noch eine gute Viertelstunde weiter.
Er ließ sich Ammers Analyse hereingeben, betrachtete sie eine Weile mit zunehmendem Entsetzen und schüttelte bekümmert den Kopf.
„Sie haben eine X-Q-Defekt, Ammer“, sagte er. „Ihre Gene unterliegen stärker als normal der Quantenfluktuation. Sie wissen, was das ist?“
„Kleine, unvorhersagbare Sprünge im mikrophysikalischen Bereich …?“
„Es bedeutet, sie sind als Person mehr oder weniger unkalkulierbar – physiologisch und mental. Es kann jederzeit irgend etwas Unerwartetes mit Ihnen passieren.“
„Das behauptet die Demokratie-Polizei auch immer. Ich bin ein Fossil. Ich müsste eigentlich längst verschwunden sein. Aber wenn sie wieder mal nicht zurechtkommen, dann greifen sie gern auf solch ein Faktotum wie mich zurück.“
„Sind Detekteien eigentlich nicht längst verboten?“, erkundigte er sich.
„Wie man’s nimmt. Ich glaube, ich habe eine der letzten Ausnahmegenehmigungen in Brüssel.“
Er nickte und sah wieder auf meine Daten. „Lassen sie recht bald was gegen Ihren Gendefekt unternehmen, Frank. Hab gehört, irgendwo in UA sei man jetzt weiter als wir im Demokratischen Grünen Bund. An der Universität von Chikago …“
„Muss ich sterben, Doktor?“
„Nein, Sie sind stark wie ein Bär, Ammer. Sie haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von hundertachtundzwanzig Jahren wie jeder andere. Das Problem sind lediglich Ihre Beißerchen. Die wollen nicht nachwachsen.“
„Was ist mit den hübschen Goldchips drüben im Schaukasten?“, fragte Ammer.
„Schrott von vorgestern, wenn ich ganz ehrlich bin. Ich würd’ Ihnen das Zeug gern verkaufen, aber die Technik geht momentan mehr in Richtung dosierter Medikamentenabgabe. Elektronische Korrektur hat sich nur als begrenzt wirksam erwiesen.“
Ammer bedankte sich für sein Engagement und trank im Vorraum noch einen echten schwarzen Espressos, den seine Praxis als Werbung offerierte. Während er ihn in kleinen Schlucken genoss, warf er einen prüfenden Blick in die Straßenschluchten, ob die Lufttaxis schon wieder flogen.
Unter ihm, etwa achtzig Stockwerke tiefer, befand sich das uralte Rathaus der brabantischen Hochgotik von 1402. Zwischen den gläsernen Hochhaustürmen sah es wie ein verlorenes Spielzeug aus.
Danach bediente er sich am Auswurf des Presseautomaten mit neuesten Nachrichten und fuhr eingekeilt zwischen steif wirkenden Angestellten in blauen Einheitsanzügen und zwei bunten Paradiesvögeln nach unten, die ihn so glückselig angrinsten, als seien sie gerade auf einem dieser verbotenen Emo-Trips …
Das Mädchen sagte etwas zu seinem Begleiter in einer Sprache, die er nicht verstand, und der junge Mann nickte und strich sich lachend durch sein gefärbtes Kunsthaar.
„Machen Sie sich etwa über mich lustig?“, fragte Ammer angriffslustig.
„Nein, bitte entschuldigen Sie. Mein Freund ist Diagnoseexperte. Er glaubt, Sie leiden an einem Gendefekt.“
„Einem Gen …? Inwiefern?“
Es war das zweite Mal an diesem unseligen Vormittag, der noch in die Geschichte eingehen sollte – wenn auch sicher nicht wegen so etwas Profanem wie meiner DNS –, dass man behauptete, er sei genetisch Schrott von vorgestern.
„Ramon ist auf Augendiagnosen spezialisiert. Er hat gerade ein Studio am Flughafen eröffnet.“
Ramon trug eine bunte Strickjacke. Die Fransen an seiner dunkelbraunen Lederhose waren ebenfalls bunt gefärbt. Sah ganz so aus, als machte er auf Navajo-Indianer – Medizinmann – oder was er dafür hielt, weil er irgendwelche historischen Schinken gesehen hatte. Das Mädchen reichte Ammer seine Karte, aber er machte keine Anstalten, sie anzunehmen.
„Meine Augen sind in Ordnung.“
„Er meint, er sieht das Unheil in Ihrem Blick.“
„Welches Unheil denn? Was soll das nun wieder heißen?“
Sie tuschelte eine Weile mit ihrem Freund, und der gab plötzlich einen grunzenden Lacher von sich, als sei Ammer gerade auf dem besten Wege, sich in der christlichen Hölle einzuschreiben.
„Unheil ist nicht korrekt übersetzt“, berichtigte sie. „Eher so was wie Zusammenbruch, Agonie oder Ruin …“
Ammer warf zwischen den Leuten im Fahrstuhl einen unbehaglichen Blick in den Platinspiegel. Er hatte sich seit Tagen nicht rasiert. Er sah aus wie ein Strauchdieb. Und sein Anzug hatte auch schon bessere Tage gesehen.
„Na, da ist er wohl nicht sehr weit von der Realität entfernt. Ich meine, wenn man sieht, wie’s momentan im Europäischen Bund zugeht …“
„Ramon redet nicht vom politischen System, sondern von Ihnen persönlich.
„Und das sieht er alles in meinen Augen?“
„Er glaubt, Sie beißen sich in Ihren Angelegenheiten zu sehr fest. Sie haben nicht die nötige Distanz. Er rät Ihnen, alles entspannter zu anzugehen. Nehmen Sie das Leben leichter.“
„Die Sache mit den Vögeln?“, erkundigte er sich ironisch, um der Sache endlich ein Ende zu bereiten. „Sie säen nicht, sie ernten nicht, und der liebe Gott ernährt sie doch? Verkünden ihm diese außerordentlichen Weisheiten vielleicht seine Glückspillen?“
„Glückspillen?“, fragte das Mädchen; es warf seinem Begleiter einen betretenen Blick zu.
„Sie sind doch beide bis zur Schädeldecke vollgestopft mit verbotenem Emo ? Da fällt’s einem leicht, bei anderen zuviel Arbeitseifer zu diagnostizieren?“
Emo war vor rund fünfzig Jahren entdeckt worden, als man die chemische Struktur der Emotionen entschlüsselt hatte. Es versetzte das Nervensystem in die Lage, unangenehme Gefühle ab- und angenehme Gefühle einzuschalten. Es war die Erfindung des Jahrhunderts. Aber sämtliche Arbeit auf diesem Planeten wäre mit einem Schlage zum Erliegen gekommen, wenn man es freigegeben hätte.
Es gab geheime Emo-Clubs, genauso so wie es im Untergrund Fleischesser-Clubs gab. Die Reichen und die Politiker nutzten Emo als Droge ohne körperliche Nebenwirkungen, und die Statistiker kommentierten diesen heimlichen Missbrauch mit der Feststellung, die Selbstmordrate sei bei denen, die es sich erlauben konnten, praktisch auf Null gesunken …
Anscheinend hatte das Mädchen meine Frage übersetzt, denn der nachgemachte Medizinmann nahm seine Hände aus den Jacken seiner Strickweste und ballte sie – immer noch lächelnd – vor meinen Augen zu Fäusten.
Ammer zog die Marke der Demokratie-Polizei aus der Jackentasche und zeigte sie den beiden. Man hatte ihm das Ding bei einem Sondereinsatz im Börsenviertel anvertraut und danach vergessen, es wieder einzuziehen.
Ein paar Augenblicke später befand er sich allein im Fahrstuhl. Seine Mitfahrer waren auf der nächsten Etage ausgestiegen.
Nichts beflügelt die Schritte so sehr, wie die Aussicht, auf irgendeine noch so belanglose Weise, etwa als zufälliger Zeuge, ins Visier der Behörden zu geraten. Und die Demokratie-Polizei ist jene Behörde, die sie am meisten fürchten.
Einer dieser lautlosen Wagen mit Fusionsmotor riss Ammer fast die aufgeschlagene Zeitung aus der Hand, als er unachtsam auf die Straße trat, um einem Kommando der Demokratie-Polizei Platz zu machen.
Sie stürmte gerade das Nachbargebäude – vermutlich, weil wieder jemand seinen Müll aus dem Fenster geworfen hatte. Das war jetzt eine beliebte Methode, um seinen Protest auszudrücken.
Ammer ging hinüber ins Börsencafé, weil man von der Drehplattform in die Halle der Kursmakler sehen konnte, und das war immer ein faszinierendes Spektakel.
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