„Ekel, wieso?“
„Na, wie ich dich kenne, wirst du mir doch gleich wieder einen Heiratsantrag machen, Frank? Der wievielte wäre das dann eigentlich?“
„Ich find’s überhaupt nicht ehrenrührig, mit dir auf Guernsey als Bauer leben zu wollen.“
„Als wenn irgendeine Frau auf der Welt mit dir nach Guernsey gehen würde …“
„Danke für das liebe Kompliment.“
Rita stammte aus Luxemburg. Angeblich war sie außerhalb von Echternach auf einem Rebenhügel zur Welt gekommen, unweit der im Jahre 98 vom heiligen Willibrord gestiftete Benediktinerabtei. Aber das garantierte offenbar noch nicht, dass auch nur ein einziger Tropfen bäuerlichen Bluts in ihren hübschen blassblauen Adern floss.
„Nun mach mal nicht auf zartbesaitet“, sagte sie, als sie meinen enttäuschten Blick bemerkte. „Als man dich für diesen Auftrag ausgewählt hat, hat man sich den miesesten Charakter ausgesucht, der im Großraum Brüssel zu finden war. Sie wissen genau über deine Arbeitsweise Bescheid, Frank. Als heul bitte nicht gleich in die Kissen, wenn ich mal ein offenes Wort mit dir rede.“
„Die Psychoheinis wollen herausgefunden haben, dass ich durchschnittlicher als der Durchschnitt bin?“
„Das spricht nicht für den Durchschnitt, oder?“
Ich zuckte die Achseln und drehte meine leere Kaffeetasse auf den Kopf. Die Kellnerin gab mir von der Theke aus ein Zeichen, dass sie sich gleich um uns kümmern würde.
„Ein Glas Weißwein, Rita?“
„Nein, ich mag das künstliche Zeug nicht.“
„Was ist denn bloß los mit dir?“, fragte ich. „Irgendwas schiefgelaufen bei eurem Plan?“
„So kommen wir nicht weiter, Frank. Meine Auftraggeber werden langsam ungeduldig. Dupin ist überfällig. Er kurvt irgendwo zwischen Brüssel und Frankfurt herum. Er hat das Flugzeug auf dem Inlandsflughafen verlassen, und keiner weiß, wo er momentan steckt.“
„Ihr habt ihn aus den Augen verloren?“
„Er hat den Lieferanteneingang des Hotels benutzt. Jeden Moment könnte jemand zuschlagen, um sich in den Besitz der Daten zu bringen.“
„Kein Grund zur Panik“, sagte ich. „Um seine Daten anzuzapfen, braucht man eine Spezialapparatur. Du bist doch die Datenexpertin, Rita – du müsstest selbst am besten wissen, dass das kein Kinderspiel ist.“
„Es gibt genug Experten auf der Welt.“
„Also gut – gehen wir alles noch mal in Ruhe durch. Wer käme außer uns dafür in Frage, wenn Dupin aus dem Verkehr gezogen wird?“
„Keine Ahnung, vielleicht will er ja auch nur die Zollkontrollen umgehen.“
„Wegen dieser Gerüchte über neue Abhörtechniken? Ich denke, er hat einer Sondergenehmigung des Demokratischen Grünen Bundes? Er ist schließlich für die Regierung unterwegs?“
„Wir stehen kurz vor den Wahlen, Frank. Einigen Leuten gefällt das Matriarchat der Präsidentin Raoul Weber ganz und gar nicht – und das beileibe nicht nur, weil sie eine radikale Feministin ist.“
„Du glaubst, dieser schmierige kleine Anwalt Ezard Spell hätte wirklich eine Chance?“
„Einige sehr mächtige Wirtschaftsbosse wünschen sich, dass die Männer auch politisch ihre führende Rolle im Europäischen Bund zurückgewinnen.“
„Ich fühle mich in dieser Weiberwirtschaft gar nicht mal so unwohl, Rita“, sagte ich. „Was ist schon so viel anders geworden seit Webers Wahl? Etwa die Abschottungspolitik gegenüber den Machtblöcken und der Dritten Welt? Oder dass Fleisch nur noch unter der Ladentheke gehandelt wird?“
„Sie stecken die Gegner des Systems in Gullys !“
„Gullys“ wurden im Volksmund die geheimen Internierungslager genannt, weil sie tief unter der Erde lagen und den „Abschaum der Gesellschaft“ aufnahmen – so jedenfalls die Propaganda. Den Gerüchten nach handelte es sich um bis zu dreißigstöckige Betonbauten in etwa fünfzig Metern Tiefe, mit geheimen Zugängen.
„Wenn das mal keine Wahlkampfpropaganda von Raoul Webers politischen Gegnern ist?“
„Die grüne Ideologie hat sich inzwischen zum grünen Terror gewandelt. Natürlich wird das durch ihre Glorifizierungspropaganda kaschiert.“
„Du hörst dich ja wie das gegnerische Wahlkampfbüro an?“, sagte ich.
Ich war weiß Gott kein begeisterter Anhänger des Systems; insofern traf mich Ritas Vorwurf überhaupt nicht. Der Demokratische Grüne Bund hielt auch nicht, was er bei seiner Gründung versprochen hatte.
UA – United America – konkurrierte momentan nur noch mit einigen wenigen großen Machtblöcken in der Welt, seitdem sich die USA, Kanada und Mittelamerika im Jahre 2332 zusammengeschlossen hatten. Die Präsidentin des Grünen Bundes hatte deshalb die Devise ausgegeben, Europa müsse unter allen Umständen konkurrenzfähig bleiben. Aber soweit ich sehen konnte, beschränkte sich diese Konkurrenzfähigkeit hauptsächlich darauf, das Stadtbild mit Parolen zu verunstalten wie:
VERHALTEN SIE SICH UMWELTGERECHT! ESSEN SIE KEIN FLEISCH! VOTIEREN SIE FÜR DIE ABSCHAFFUNG UNSAUBERER ENERGIEN IN DER DRITTEN WELT!
„Wir haben ihn …“, sagte Rita und drückte die Taste an ihrem Hörclips über dem linken Ohr, um die Lautstärke einzustellen. „Nordeingang Flughafen. Wurde vor fünf Minuten auf der Zufahrt am Raoul Weber-Center gesichtet …“
Ich stellte meine Tasse ab und hielt meinen Daumen zum Bezahlen in den Abdruckabtaster auf der Tischplatte. Währenddessen warf Rita ihre Stöckelschuhe in die Tasche und zog ihre schwarzen Laufschuhe an …
Wir liefen schweigend die Halle entlang bis wir die unscheinbare Tür hinter den Ticketschaltern erreicht hatten.
Rita warf einen argwöhnischen Blick in die Abflughalle zurück, ehe sie die Tür mit einem altmodischen Sicherheitsschlüssel öffnete. Anscheinend benötigte man für diesen Zugang keinen Code.
Der kleine Raum dahinter war mit nüchternen weißen Kunststoffmöbeln ausgestattet. In der Mitte standen ein Tisch und vier Stühle.
„Unsere Uniformen sind in den Schränken …“
Wir zogen schweigend die schwarzen Regierungsuniformen mit den grün-weiß-gelben Unionsflaggen an. Ritas grün-weiß-gelb lackierte Zehennägel verschwanden in Polizeistiefeln aus weichem Leder.
„Ist dies auch der Raum, wo wir Dupin verhören werden?“, fragte ich.
„Deine Unterlagen sind im Safe neben dem Waschbecken.“
„Iriskontrolle?“, fragte ich.
„Auf deine hübschen blauen Augen“, bestätigte sie.
Ich öffnete den weißen Hängeschrank über der Anrichte und sah in den Sehschlitz des Safes dahinter. Ein blinkendes grünes Signal bestätigte, dass ich autorisiert war, den Türverschluss zu betätigen. Ich nahm die unscheinbare blaue Mappe heraus und legte sie an den Platz, wo ich bei Dupins Verhör sitzen würde.
Rita schaltete das elektronische Projektionssystem der Europäischen Einwohnerdatenbank ein und Gerald Dupins Bild mit seinen persönlichen Daten erschien auf dem Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand.
Für einen Farbigen um die Vierzig, der seine besten Jahre in der klimatisierten Luft Außenministeriums zugebracht hatte, sah er erstaunlich fit aus: glattes, gesundes Gesicht, sportliche Figur, dichtes schwarzes Haar. Ein Durchschnittsmensch, wie man ihm in Brüssel an jeder Straßenecke begegnete. Was ich mir weniger gut gefiel, war der einoperierte daumennagelgroße Goldpunkt im Schädelknochen hinter seinem linken Ohr.
Ich habe diese einoperierten Apparate, die Zentraleinheit genannt wurden und für alle möglichen Zwecke dienen – als Datenbank, Telefon, Rundfunksender und Diagnosezentrum –, noch nie leiden können. Wenn ich die Dinger sah, überfiel mich immer der Argwohn, ihre Träger seien ferngesteuerter Zombis. Aber manche Leute, darunter viele Brüsseler Bürokraten, waren ganz versessen darauf, eins verpasst zu bekommen. Angeblich erleichterte es das Leben. Man brauchte keine Wörterbücher oder Lexika mehr, man benötigte nur noch selten Informationen aus den computergestützten Datenbanken.
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