Er schlug sich schon seit Jahren schlecht und recht als Privatdetektiv durch. Seine Rechnungen waren seinen Einnahmen immer auf geheimnisvolle Weise voraus; als steuere irgendeine unsichtbare Instanz das Verhältnis von Ausgaben und Einnahmen. Die Nähe zum großen Geld, und sei es auch nur auf den Kurstafeln, hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn.
Ammer beugte sich vor, um besser durch die Scheibe des Cafés in die Halle sehen zu können. Es gab irgendwelche Turbulenzen dort unten bei den Kursmaklern. Aber er konnte nicht erkennen, was es war. Sie schienen noch ein wenig hektischer in ihre Telefone zu sprechen als sonst …
Dann begriff er, dass jemand – ein britischer Hacker – die Nachrichtensysteme der Banken geknackt hatte. Das Bild eines pickeligen Jünglings mit altmodischer Hornbrille und hageren Wangen flimmerte über die Bildschirme. Es zeigte ihn vorgebeugt bei der Arbeit in einen winzigen Mansardenzimmer, dessen Tapeten Ammer an Warteraum „2000“ erinnerten.
Der Junge nahm seine Brille ab und blinzelte kurzsichtig in die Kamera, vielleicht, weil er kein Geld für eine Laserkorrektur seiner Augen besaß.
„Mit welchen System ist Ihnen dieser bemerkenswerte Zugriff gelungen?“, fragte die Stimme des Moderators aus dem Off. Doch ehe der pickelige Knabe antworten konnte, schaltete die Regie zu einer Sondermeldung hinüber in die Brüsseler Börse …
Ammer trank gerade seinen zweiten Kaffee, als die Nachricht von größten Börsenzusammenbruch des dritten Jahrtausends über die Bildschirme kam …
Man hatte mich beauftragt, einen gewissen Gerald Dupin zu finden. Sie sagten nicht „zur Strecke zu bringen“. Das wäre auch nicht mein Job gewesen – nicht mal für das Doppelte der 100.000 Euro, die man mir anbot.
Dupin war im Auftrage der Regierung der Vereinigten Staaten von Europa unterwegs. Er hatte am Abend Brüssel verlassen. Er umging die Kontrollen an den Flughäfen mit einer Sondergenehmigung des Demokratischen Grünen Bundes . Gerald Dupin trug seine Informationen in Form von Daten bei sich, die ins Nervensystem eingespeichert waren.
Es gab Gerüchte, dass man jetzt auch neuronale Gedächtnisspeicher über die schwachen Felder des Gehirns anzapfen konnte. Falls das keiner der üblichen Tricks zur Einschüchterung war, den sich Polizei und Geheimdienste ausgedacht hatten, dann brauchte man dazu eine Anlage mindestens von der Größe, die bei regulären Gepäckkontrollen im Flughafen eingesetzt wurde.
Angeblich musste man sich dazu mindestens drei Minuten im Bereich der elektronischen Abtastung aufhalten. Wenn man Passkontrolle mit Pupillenidentifizierung, Leibesvisitation und Kontrolle des Gepäcks zusammenrechnete, erschien das nicht als unrealistischer Wert.
Seit dem Jahre 2998 war klar, dass alle bisher bekannten digitalen Nachrichtenverschlüsselungssysteme geknackt werden konnten. Man benötigte dafür die neuesten Hochleistungscomputer und das chinesische Dechiffrierungssystem „Qin“. Es war ein Verdienst des sechzehnjährigen Hackers im englischen Küstenort Plymouth gewesen, das der Weltöffentlichkeit demonstriert zu haben.
Seitdem war sein Konterfei so berühmt wie das der Präsidentin des Europäischen Bundes. Er hatte sich mit Qin zunächst in den Zentralrechner der Union eingeschaltet und dann mit seiner Hilfe eine Analyse aller Regierungscodes ins Internet eingespeist, die zur Zeit von militärischer und wirtschaftlicher Bedeutung waren.
Ich erinnere mich noch genau an den stürmischen Tag im Juli, als die Weltwirtschaft zusammenbrach. Ich hatte gerade meine Zähne untersuchen und mir eine Blutwäsche geben lassen, als die Nachrichtensender die Horrornachricht auf alle öffentlichen und privaten Bildschirme legten. Wenig später plärrten die automatischen Durchsagen der Armbanduhrentelefone dasselbe Lied in den drei großen Weltsprachen Englisch, Chinesisch und Spanisch. Die internationalen Börsen hatten den Daten-Gau nicht verkraften können.
Damals betrieb ich nur noch ein kümmerliches kleines Büro in der Innenstadt von Brüssel, weil die Regierung des Demokratischen Grünen Bundes allen frei arbeitenden Agenten die Lizenz entzogen hatte.
Eigentlich widerspricht das der Verfassung von 2901. Danach können neben Polizei und Sicherheitsdiensten beliebig viele frei arbeitende Ermittlungsdienste gegründet werden, soweit sie den gesetzlichen Bestimmungen entsprechen. Der Daten-Gau im Juli 2998 war ein willkommener Anlass gewesen, dieses verfassungsmäßig verbriefte Recht auszuhebeln.
Seitdem arbeitete ich nicht mehr mit meiner regulären Ausnahmegenehmigung, sondern mit einer „Sondergenehmigung“. Meine Versicherungspolice bei der geheimen Demokratie-Polizei – wie sie sich ironischerweise selber nannte, im Volksmund „GS“ für „Gesinnungsschnüffler“ – war eine mündliche Vereinbarung, in der ich mich bereit erklärt hatte, alle politisch und wirtschaftlich relevanten Daten, soweit sie mir bekannt wurden, unverzüglich an die DP weiterzugeben.
Anders ausgedrückt: Ich durfte genau so lange weiterarbeiten, wie sie glaubten, dass sie von mir profitieren würden.
Als ich meinen dritten Synthetik bestellt hatte, sah ich Rita durch die Abflughalle des Interkontinentalflughafens kommen. Sie stöckelte in dieser Weise auf ihren etwas zu hohen Absätzen durchs Gedränge, die mich immer den Atem anhalten lässt, ob sie’s doch noch ohne Arm- und Beinbruch schaffen könnte.
Rita Baré war mein Problem, mein ganz persönliches Problem. Nicht, weil sich meine Auftraggeber hinter ihr versteckten und Rita als „Strohfrau“ benutzten. Mittelsmänner sind in meinem Gewerbe an der Tagesordnung. Wenn man auf Gerald Dupins geheime Regierungsdaten scharf war, gab es höchstwahrscheinlich eine Menge Interessenten, die dabei lieber im Hintergrund bleiben wollten. Allen voran die großen Machtblöcke, die unserem feinen Europäischen Grünen Bund an die „ökologisch-demokratische“ Karre zu pissen versuchten. Deshalb hatte ich mir vorgenommen, auch gar nicht erst nach der sprichwörtlichen Stecknadel im Heuhaufen zu suchen, sondern meinen Auftrag zu erledigen und mit meinen 100.000 Euro auf Nimmerwiedersehen aus Brüssel zu verschwinden.
Dabei dachte ich nicht nur an meine dritten Zähne und das Honorar, das diese Genklempner sich einstecken wollten. Es gab da nämlich einen hübschen Palmenstrand auf der Kanalinsel Guernsey, wo mein Bruder einen nostalgischen alten Bauernhof betrieb, schneeweißen Sandstrand. Und die große Klimaveränderung der letzten Jahre bescherte uns dazu das passende Badewetter …
Nein, Rita war das, was man sich als Mann mit ausgeprägtem Pflegeinstinkt unter einer Frau vorstellte, der man gern jeden Wunsch von den Augen abgelesen hätte. Ich kann nicht behaupten, dass ich für solche Gelüste besonders anfällig wäre. Ein paar Psychologen der Zulassungsstelle für das Ermittlungsgewerbe glaubten sogar herausgefunden zu haben, dass ich in Sachen Frauen und Sex eher den mitteleuropäischen Durchschnittstyp verkörperte. Was auch immer das genau sein sollte. Ich fand’s einfach faszinierend, dass Rita zwar einen Abschluss in Dechiffriertechnik bei der größten Gehirnschmiede des Kontinents besaß, aber kaum ohne fremde Hilfe eine Treppe hinuntergehen konnte.
Vielleicht war das nur eine Masche bei ihr, mag sein. Vielleicht hatten ihre Hintermänner ihr geraten, auf hilfloses weibliches Huhn zu machen. Wenn das ihr Trick war, dann kam’s jedenfalls gut bei mir an.
„Hallo, altes Ekel“, sagte sie und ließ sich seufzend auf einen der Barhocker plumpsen. Ich sah zu, wie sich ihre Füße von den viel zu hohen Stöckelschuhen trennten und ihre makellosen weißen Füße freigaben. Ihre Zehennägel waren in den Farben der Unionsflagge lackiert: Grün-Weiß-Gelb.
Ich wusste, dass sie’s nicht so meinte, wie es klang; aber ich ging zum Schein darauf ein. In alten Texten aus dem Jahre 1900 habe ich mal einen Spruch entdeckt, der ungefähr folgendermaßen lautete: Was sich liebt, das neckt sich …
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