Auf Jonas' Fragen, ob er eine Ahnung hätte oder ob es Hinweise gäbe, wer hinter dem Verbrechen stecken könnte, ob Joe irgendwelche Feinde hatte, ob es ein Ereignis aus früheren Zeiten gab, das in Zusammenhang mit dem Verschwinden von Bedeutung sein könnte, stets zuckte Max nur kopfschüttelnd mit den Achseln oder verwies auf die Polizei, der er bereits alles zu deren "dämlichen" Fragen gesagt hätte.
In Grassau wimmelte es von eilfertigen Journalisten, die den ganzen Ort auf den Kopf stellten, um auf Gedeih und Verderb eine Story zurechtzuzimmern. Sensationslüsterne Leser würden sie gierig aufsaugen und damit für steigende Auflagen sorgen.
Jonas und Clara hatten sich durch die Front übereifriger Reporter gekämpft und von Joes Nachbarin erfahren, dass Joe am 12.8. wie üblich gegen 19.30 Uhr das Haus verlassen hatte und zusammen mit seinem Kater Felix im Porsche Cayenne in die Kendlmühlfilzen abgefahren war. Unter Tränen erzählte sie, dass sie mit Joe an diesem Abend zum Kartenspielen verabredet war. Von seinem Spaziergang sei er nicht zurückgekehrt. Als er am nächsten Tag immer noch nicht anzutreffen war, hatte sie die Polizei verständigt.
Auch bei der zuständigen Kriminalpolizei konnte oder wollte man keine Informationen über mögliche Hintergründe des Vorfalles herausrücken. Immerhin wurde bestätigt, was in Grassau bereits als Gerücht kursierte, dass Zeugen am Tatabend gegen 20.45 Uhr zwei Schüsse gehört haben wollten. Zum Tatort in die Kendlmühlfilzen konnten Jonas und Clara nicht, denn sowohl von Rottau als auch von Grassau aus waren die Zufahrtsstraßen gesperrt. Das Moor wurde von Spezialisten durch und durch gekämmt, man hoffte immer noch die Leiche zu finden
In den Tagen danach überboten sich die Zeitungen mit gewagten Spekulationen über Joes Leben, seine Schicksalsschläge und seine beruflichen Tätigkeiten, nicht ohne unterschwellig auf die daraus resultierenden persönlichen Risiken hinzuweisen. So wurde berichtet, dass Joe sich nach dem tragischen Unfalltod seiner ersten Frau Patricia in den USA aus der Konzeption und Entwicklung von Sicherheitslösungen für führende US-Unternehmen zurückgezogen hatte. Danach übernahm er die Leitung der Hotelkette Qualiton Resorts am Golf von Mexiko, die seine amerikanische Frau aufgebaut hatte. Journalisten fanden heraus, dass es bereits im August 2005 in Naples, Florida, in Joe Mosers Luxushotel einen Anschlag auf ihn gab, der bis heute nicht aufgeklärt werden konnte.
Vermutet wurde auch, dass Joe Mosers Tod oder Verschwinden mit seiner Beratung großer Unternehmen über Industriespionage in Zusammenhang stehen könnte. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland hatte er - wie behauptet wurde - Kontakte mit IT-Bereichen exportorientierter Unternehmen und mit Versicherungen, die auf Verträge gegen Cyber-Spionage spezialisiert waren. Auch sein ehemaliger Arbeitgeber, die Firma ITaNS, schien involviert gewesen zu sein.
Ein paar Tage später wurde berichtet, dass Joe Moser und seine zweite Frau Elisabeth 2007 einen Zweitwohnsitz in St.-Remy-de-Provence erworben hatten. 2012 plante er den Bau eines 5-Sterne-Resorts mit Golfplatz in der Nähe des idyllischen Ortes Eygalières.
Auch vom Tod seiner zweiten Frau vor einem Jahr wurde ausführlich berichtet, die infolge einer Lungenembolie plötzlich verstorben war. Die Medien setzten alles daran, das Thema heiß zu halten, indem sie Tag für Tag neue Häppchen servierten, um eine breite Leserschaft bei der Stange zu halten. Das Mainstream-Phänomen konnte wieder einmal beobachtet werden, die Berichterstattung vieler Zeitungen war weitgehend identisch und die Presse übernahm ganz selbstverständlich die Deutungshoheit über die Ereignisse: Joe Moser war Opfer eines Wirtschaftsverbrechens geworden und tot. Zwar gab es keine Leiche und (noch) keine Beweise, aber der Fall war doch ansonsten offensichtlich.
Aus ermittlungstaktischen Gründen schwieg sich die Kriminalpolizei aus. Ob und welche Spuren sie verfolgte, wurde nicht bekannt.
Jonas und Clara waren ziemlich ratlos, die Stimmung blieb tagelang gedrückt. Joe ging ihnen nicht aus dem Kopf. Auch die Erinnerung an Ellis Tod wurde wieder lebendig und trübte ihre Gemütslage.
»Man könnte fast an eine überirdische Macht glauben, die es auf Joe und seine Liebsten abgesehen hat«, meinte Clara verbittert. »Vielleicht ist er gar nicht tot. Wenn er vermisst ist, könnte es doch noch Hoffnung geben. Merkwürdig auch, dass der Kater mit ihm verschwunden ist. Wäre es ein Verbrechen gewesen, müsste der Kater doch gefunden worden sein.«
»Irgendwie hast du da recht, allerdings wer kümmert sich in so einem Fall schon um einen Kater? Außerdem könnte er auch beseitigt worden oder im Moor versunken sein.«
»Meine Intuition sagt mir, dass da etwas nicht stimmt«, bemerkte Clara nachdenklich.
***
Seit Wochen verfolgte Jonas die täglichen Presseberichte über die Enthüllungen von Edward Snowden. Nun grübelte und grübelte er, ob Joes Insiderwissen über die NSA etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben könnte. Was Jonas zu denken gab, war der zeitliche Zusammenhang zwischen den Veröffentlichungen über Snowden und der Attacke auf Joe. Es lagen nämlich nur wenige Wochen dazwischen.
Auf der anderen Seite beruhigte er sich wieder. Joe war zwar immer noch im Visier der NSA, das wusste Jonas. Aber NSA-Mitarbeiter wie Snowden war er nie. Er hatte Kenntnisse über die Organisation und auch Kontakte zu maßgeblichen Personen, doch war er sicher nicht in die Praktiken und Techniken des Ausspähens eingeweiht. Oder gab es da doch Zweifel? Hat er unbedacht sein Wissen weitergegeben?
Jonas erinnerte sich, dass Joe und er sich schon als Studenten Gedanken über mögliche Spähaktionen gemacht hatten. In Bad Aibling inspizierten sie damals von außen das Gelände der dortigen Abhörstation mit ihren riesigen Radomen. Sie bekamen heraus, dass die US Army die Station nach dem 2. Weltkrieg übernommen hatte und für Auslandsspionage nutzte. So jedenfalls sagte es die Gerüchteküche. Die Station sollte zwar 2002 stillgelegt werden, dieser Plan wurde aber nach den Anschlägen 9/11 2001 auf die Twin Towers aufgegeben. Das war die offizielle Version. Aber seitdem kochte über die Verwendung der Station durch die EU, den BND und die NSA erneut die Gerüchteküche!
Wie tief gehend war Joes Verflechtung mit der NSA tatsächlich? Bis 2004 war er als international anerkannter IT- und Security-Experte in den USA tätig. Hatte dort als absolut sicher geltende IT-Lösungen für Finanzdienstleister, Industriebranchen und sogar für US-Behörden entwickelt und implementiert. Die verwendete Technologie kam aus Europa und basierte auf hoch entwickelten, speziellen Chipkarten. Deren Verschlüsselungstechnologie mit Krypto-Prozessoren war sensationell und konnte nicht geknackt werden. Deshalb war Joe ins Visier der NSA geraten.
Jonas erinnerte sich an ein längeres Gespräch, als er Joe vor Jahren in den USA getroffen hatte. Joe machte ihm damals klar, dass er der NSA nicht entrinnen konnte. Jonas wunderte sich, dass sein Freund das so auf die leichte Schulter nahm.
Ja und dann war da noch die brisante Erfindung von Joe und seinen Mitarbeitern! Sie hätte den Unternehmen, die quasi in einer Monopolposition die Zahlungsabwicklung für sämtliche Kreditkarten durchführten, das Geschäft restlos vermasselt! Aber dazu kam es nicht. Es gab diesen tragischen Autounfall, bei dem Joes Frau und der Co-Erfinder ums Leben kamen. Die Erfindungsunterlagen waren verschwunden. Für Joe war es eiskalter Mord.
Das ist schon alles verdammt verzwickt, räsonierte Jonas. Und dann auch noch die beiden Anschläge auf Joe in Florida! Die er überlebt hatte, die aber nicht aufgeklärt werden konnten. Jetzt hat es ihn in der Kendlmühlfilzen wohl endgültig erwischt! Entsetzlich! Unfassbar!
Allmählich ging Clara das Schweigen und Grübeln ihres Mannes auf die Nerven.
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