„Entlassen“, flüsterte sie.
„Was?“, fragte Steffi nach.
„Ich bin entlassen“, sagte Cora mit fester Stimme und etwas lauter. Erhobenen Kopfes sah sie zu Jörg herüber. „Du hast dem Chef brühwarm alles erzählt, jedes Mal, wenn ich weg musste, weil etwas mit meinen Kindern war. Richtig?“
Der Kollege zuckte mit den Schultern. „Schließlich musste ich deinen Kram auch noch übernehmen. Da habe ich wohl auch das Recht, dass der Chef weiß, wer hier arbeitet und wer nicht. Und irgendwie muss ich ja auch meine Überstunden erklären. Ich habe kein Privatleben mehr, seit ich ständig in der Firma bin und deine liegengebliebenen Sachen erledigen muss.“
Cora stand auf und ging zu Jörg rüber, der mit seinem Stuhl ein wenig nach hinten rutschte, als habe er Angst. Cora lächelte. Zurecht!
„Nun, liebster Jörg.“ Ihre Stimme trief vor Liebenswürdigkeit. „Ich bin ab sofort nicht mehr da, da ich freigestellt wurde. Leider bekommt ihr aber keine neue Kollegin.“ Sie verzog ihr Gesicht zu einer mitleidsvollen Miene. „Der Arbeitsplatz wird wegrationalisiert. Das heißt, dass dein Privatleben für unbestimmte Zeit leider auf Eis liegt. Tut mir schrecklich leid für dich.“ Cora legte ihre Hand kurz an seinen Arm, drehte sich dann um und verschwand in Richtung Toilette.
„Wow, das war cool!“, hörte sie wenig später Steffis Stimme durch die geschlossene Kabinentür. „Jörg ist immer noch ganz weiß im Gesicht.“
Cora schloss die Tür auf, trat an das Waschbecken und seufzte tief. „Was soll ich denn jetzt bloß machen? Als Mutter von zwei Kindern finde ich so schnell keinen Job mehr.“
Steffi zog ihre Lippen nach, die heute zur Abwechslung mal blau waren. „Du machst genau das, was wir gestern besprochen haben. Dann hast du erstmal Mieteinnahmen und einen Babysitter.“
Verständnislos blickte Cora sie an.
„Du wolltest doch alleinerziehende Frauen in deinem Haus aufnehmen, damit ihr euch mit den Kids abwechseln könnt. Ist doch jetzt total praktisch. So kommt Geld ins Haus, das du jetzt dringend benötigst.“
„Aber das war doch nur laut gedacht“, widersprach Cora.
„Dann ist es jetzt eben kein Gedanke mehr, sondern die Lösung.“
„Bei dir klingt immer alles so einfach.“
„Ist es doch auch. Du musst nur eine Anzeige aufgeben.“
„Steffi!“, sprach Cora mit ihr, wie mit einem ihrer Kinder. „Ich kann nicht irgendwelche wildfremden Frauen in mein Haus lassen, die auch noch auf meine Kinder aufpassen sollen. Keine Mutter vertraut ihre Kinder jemandem an, den sie nicht kennt.“
„Dann häng eben einen Zettel in deinem Kindergarten aus. Die Mütter kennst du ja quasi alle.“
„Du hast wohl auf alles eine Antwort.“
„Gut für dich.“ Steffi drückte Cora herzlich und verließ die Toilette.
Cora blickte ihr Spiegelbild an. „Einen Versuch ist es wert“, seufzte sie.
Jens Blick fiel auf den Zettel, der noch nicht lange im Kindergarten hängen konnte.
Suche alleinerziehende Mütter mit Kindern, die genauso verzweifelt sind wie ich, weil sie Kinder, Haushalt, Arbeit und den meist nicht vorhandenen Babysitter nicht unter einen Hut bekommen. Biete je zwei Zimmer in großem Haus. Warum sollten wir uns nicht zusammentun und uns das Leben etwas erleichtern? Sprich mich einfach an oder ruf an.
Darunter standen eine Telefonnummer und der Name Cora. In Klammern hatte sie geschrieben (Mama von Lara und Nils).
Jen seufzte. Wenn man Kinder hatte, wurde man automatisch auf Mama von … reduziert. Das hatte Cora gut erkannt. Auch ansonsten sprach dieses Angebot sie an. Cora hatte aus tiefstem Herzen geschrieben, das merkte man. Und wenn Jen ehrlich war, bot sich ihr hier die perfekte Lösung ihrer Probleme. Ihr Sohn Tim war sechs Jahre alt. Seit sein Vater vor vierzehn Monaten bei einem Unfall ums Leben gekommen war, wohnte Jen mit ihm wieder bei ihrer Mutter. Genau das war das Problem: Ihre Mutter schaffte das mit Tim nicht mehr, obwohl sie es nie zugeben würde. Jen war Flugbegleiterin und manchmal fünf Tage am Stück weg. Tim wickelte seine Oma um den kleinen Finger, sodass die Erziehung auf der Strecke blieb. Zuviel Süßigkeiten, zu wenig Regeln.
Cora bot ihr definitiv eine Chance, wieder auf eigenen Füßen stehen zu können. Zumindest wäre es ein Anfang.
Ich rufe einfach mal an. Mehr als Nein sagen, kann sie ja nicht.
„Cora Becker!“, hörte sie eine etwas müde Stimme an ihrem Ohr.
Jen umklammerte ihr Handy etwas fester. „Äh, hallo. Mein Name ist Jennifer Niegel, also Jen meine ich.“ Super Anfang! Mist, als würde Cora mein Spitzname interessieren. „Ich habe Ihren Zettel im Kindergarten gelesen. Ich bin die Mama von Tim“, fügte sie schnell hinzu.
„Hallo, Jen“, antwortete Cora freundlich. „Ich hätte nicht gedacht, dass sich so schnell jemand meldet. Ich habe den Zettel erst vor einer Stunde aufgehängt.“
„Wenn ich ehrlich bin, habe ich auch ziemlich spontan angerufen. Ich hatte nicht wirklich Zeit, darüber nachzudenken, ob es eine gute Idee ist.“ Das Gespräch wird immer besser, dachte Jen ironisch. Doch zu ihrer Erleichterung lachte Cora. „Und wenn ich ehrlich bin, hatte ich auch nicht wirklich Zeit, darüber nachzudenken, ob ich diesen Zettel überhaupt aufhängen will.“
„Das ist doch ein toller Anfang. Wir sind zwei Frauen, die anscheinend Hilfe brauchen, sich aber nicht sicher sind, ob sie das wollen.“
„Auf den Punkt gebracht. Hätte ich nicht besser ausdrücken können. Was halten Sie von einem späten Frühstück?“
„Klingt klasse. Jetzt gleich?“, fragte Jen vorsichtshalber noch mal nach.
„Jetzt gleich. Kennen Sie das Henriette ? Ist nicht weit vom Kindergarten entfernt.“
Jen nickte. „Kenne ich. Wann?“
„Ich bin schon da.“
„Wow. Ich brauche zwei Minuten. Bis gleich.“
Jen legte auf, überlegte kurz, mit dem Auto die paar Meter zu fahren, entschied sich dann aber dagegen. Ein wenig frische Luft würde ihr guttun.
Kurze Zeit später betrat sie das gemütliche Café. Erst jetzt kam ihr der Gedanke, dass sie gar nicht wusste, wie Cora aussah. Leider war das Café nicht gerade leer.
Sei‘s drum! „Hallo!“, rief sie laut. „Mein Name ist Jen, und ich suche Cora.“
So ziemlich jeder in dem Café blickte hoch und starrte sie an.
„Hallo! Ich bin Cora und warte auf Jen!“, hörte sie von schräg links eine Frauenstimme in der gleichen Lautstärke antworten.
„Vielen Dank. Und jetzt bitte alle wieder weiter frühstücken!“
Die Gäste widmeten sich wieder ihrem Frühstücks-Ei und ihrem Orangensaft, während Jen auf Cora zuging und sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen ließ.
Cora lächelte sie amüsiert an.
„Bestimmt war das nicht die beste Art, mich vorzustellen, aber die schnellste“, sagte Jen und reichte ihr über den Tisch die Hand, die Cora ergriff.
„Ich fand es gut gelöst. Jetzt weiß ich alles, was ich über dich wissen muss“, kam Cora gleich zum Du. „Du bist spontan“, fügte sie an, „findest schnell Lösungen, handelst aus dem Gefühl heraus und verschwendest keinen Gedanken daran, was andere von dir halten.“
„Und? Habe ich mich jetzt selber disqualifiziert?“
„Willkommen in unserer neu gegründeten WG.“
Jen grinste. „Du bist ja noch spontaner.“
„Mein Bauchgefühl sagt mir, es passt. Außerdem bist du mir nicht ganz unbekannt“, gestand Cora. „Tim hat mir von seinem Papa erzählt. Es tut mir sehr leid“, fügte sie hinzu.
„Danke. Ich wusste nicht, dass du Tim kennst.“
„Oh. Tim erzählt mir viel, wenn ich Lara und Nils abhole. Anscheinend spielen Lara und Tim öfter zusammen. Jedenfalls weiß ich immer genau, wo seine Mama gerade ist. Thailand, Amerika, Südafrika.“
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