Mangel an Pünktlichkeit kam nicht in Betracht.
Die Videoaufnahmen hatte er nicht angeschaut. Fiel ihm beim Anziehen siedend heiß ein. Eingepennt vor der Glotze wie ein alter Sack. Was war nur mit ihm los?
„Ich will diesen peinlichen Fall bis Mittag erledigt haben.“
Dafür blieb kaum noch Zeit.
Er schaltete den Camcorder ein und beobachtete auf dem Videomonitor den Anflug seiner Drohne über die vom Licht der Straßenlaternen beleuchtete Kleingartenkolonie. Nebenbei putzte er Zähne und zog sich den Mantel an. Einmal kam sein ferngesteuertes Fluggerät optimal nah an den Fenstern vorbei.
„Was ist denn das? Mein Gott!“
Beim Versuch, die Szene schnell zurück zu spulen, stolperte er fast über seine Schuhe. Was er auf dem unscharfen Videobildmaterial gesehen hatte, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Eine volle Fluchtdosis Adrenalin raste durch seinen Körper.
„Eine Hinrichtung! Ich war gestern Abend Zeuge eines Mordes!“
Seine Kameradrohne hatte zwar fast komplett versagt. Unscharfe Bilder, verwackelt, unbrauchbar. Aber eine Aufnahme war gelungen. Sie zeigte kurz im Vorbeiflug den letzten Moment einer Hinrichtung. Ein Seil von der Decke, darunter ein Mann mit verbundenen Augen. Seilschlinge um den Hals.
„Unfassbar! Unfassbar!“
Und er hatte nicht eingegriffen. Weil er wie ein Anfänger eingeschlafen war! Katzorke war entsetzt, total enttäuscht von sich, nahe am Herzinfarkt. Ein Fiasko. Der Täter hatte seine Tat bestimmt längst vertuscht. Hätte er die Aufnahmen gleich gesichtet, wäre der Mörder auf frischer Tat geschnappt worden. Vielleicht hätte das Opfer überlebt? Anruf beim Notruf, Dienststelle, Notarztwagen!
Dieser Mariendorf Fall war seine erste totale Fehleinschätzung. Was für ein Einbruch in seinem Selbstwert Kontor.
„Wie ein Amateur.“
In seinem Schädel rasten die vergangenen Fälle von Entführungen, Geiselnahmen, ja sogar von Terroristen im Zeitraffertempo vorüber. Zu allem Unglück waren die Aufnahmen im Vorbeiflug durch eine milchig beschlagene und verschmutzte Fensterscheibe fotografiert. Kein Gesicht war deutlich erkennbar.
„Vielleicht die Hinrichtung eines Bandenmitglieds wegen Verrats?“
In vielen kriminellen Banden wurden drakonische Maßnahmen ergriffen, schon allein beim Verdacht, dass einer „singen“ könnte. Zur Abschreckung, und zum Zusammenhalt.
„Diese griechischen Händler sind vielleicht gar keine harmlosen Kaufleute, sondern skrupellose Killer!“
Ein Mord war geschehen, mit Bezug zu einer Gruppierung. Das fiel in sein Ressort, das hatte er aufzuklären.
„Freisinger, du gemeiner Hund!“
Er verdächtigte diesen Kollegen, ihm diesen stümperhaft ermittelten Fall untergeschoben zu haben.
„Ich muss sofort in diese Wohnung. Spuren sichern.“
Mit Gefahr im Verzug war da nichts mehr zu machen. Sein Videobeweis war illegal, den konnte er seinem Chef nicht präsentieren. Aber für einen Einsatz brauchte er dessen Genehmigung.
Katzorke suchte verzweifelt seinen Wohnungsschlüssel in den Manteltaschen.
„Sabotage! Mist!“
Der Schlüsselbund lag am Aquarium neben dem Fischfutter. Vor dem Spiegel im Vorbeigehen eine Freisinger Fratze, dann eilte er die Treppen hinunter.
Die würden seine Ermittlungserfolge nicht infrage stellen, weder Freisinger noch sonst wer nicht! Absolut niemand aus der Abteilung für organisierte Kriminalität des LKA hatte eine Ahnung davon, mit welchen Methoden er arbeitete.
Sein Geheimnis.
Mit hoher Geschwindigkeit raste er zur Dienststelle.
Vor dem Haupteingang hielt er einen Moment lang inne, um sich zu beruhigen. Niemand sollte ihm etwas anmerken.
Grußlos und mit gesenktem Blick schob er sich eiligen Schrittes an seinen Kollegen vorbei. Keiner von ihnen hätte später unter Eid schwören können, dass er überhaupt da war. Seine Tarnkappe hatte funktioniert.
Im zellenartigen Büro blieb er für die nächsten zwei Stunden still hinter geschlossener Tür. Zeile für Zeile entzifferte er nochmals diese verdammte Akte.
„Mariendorf? Ausgerechnet Mariendorf! Kein unheiliger Bezirk.“
Die Aktenlage fand er genauso dürftig wie am Tag zuvor. Er musste vor Ort recherchieren!
Katzorke griff zum Telefonhörer und rief Müller an, seinen Vorgesetzten. Der bat ihn in sein Büro.
„Was haben Sie für Neuigkeiten, Katzorke?“
Müller lächelte immer wohlwollend, wenn er seinen besten Fänger vor sich hatte. Dessen Unbeholfenheit amüsierte ihn.
Im Büro des Chefs roch es nach Käsebrot.
„Ich will mich nicht beschweren, aber wenn ich das ausbaden soll? Was soll ich machen bei solcher Schlamperei der Polizei! Von einzelnen Polizisten. Ich nenne keine Namen.“
Katzorke legte seine ganze Entrüstung in den Zustand der Akte. So kam er mit Müller ins Spiel.
Peter Müller lächelte nicht mehr. Seine Mundwinkel krümmten sich nach unten.
„Schlamperei der Polizei?“
„So steht es womöglich bald in der Presse.“
Die Akte wanderte über den Schreibtisch. Müller überflog die losen Blätter.
„Na ja, das ist gar nichts. Das ist ein Dreck!“
Beim Sprechen stieß ihm sein Käsebrot auf.
„Oder verdammt gute Tarnung! Ich weiß nicht.“
Müller stutzte bei diesem Einwand.
Er begriff, dass er zwischen Katzorkes Worten lesen sollte.
„Angenommen, wir gehen da rein. Die Presse kriegt leider immer vorher davon mit. Polizeifunk, Informanten, was weiß ich? Nachher heißt es wieder: die böse, böse Polizei!“
Katzorke war ein Meister darin, sich mit einer Rede Verantwortung vom Hals zu schaffen. Diesmal war Peter Müller dran. Sein Vorgesetzter begriff eines in diesem Moment nicht. Dass Katzorke ihn gerade in seinen Schlamassel mit hineinzog.
„Dann kommunizieren wir eben bei diesem Einsatz mal anders. Sagen sie das ihren Einsatzkräften. Nichts über Polizeifunk!“
Katzorke grinste loyal.
„Warum sollten wir technisch immer hinterher sein? Das kotzt mich schon seit Jahren an. Aber ich kriege ja keine Mittel bewilligt.“
Katzorke schwankte von einem Fuß auf den anderen.
„Was noch?“
Die beiden konnten miteinander auskommen, wirklich gemocht hatten sie sich trotzdem nicht.
„Die mutmaßlichen Straftäter sind Griechen. Ich persönlich habe nichts gegen Griechen. Ich gehe auch griechisch essen. Kann es sein, dass in unserer Behörde irgendjemand etwas gegen Griechen hat?“
Müller war sofort von seinem Platz hinter dem Schreibtisch aufgesprungen, sein Gesicht wurde blass. Seine rechte Hand, die die ganze Zeit einen altmodischen Füllfederhalter hielt, verriet mit ihrem Zittern seine innerliche Wut.
„Immer dasselbe Problem. Eigentlich dürften wir nirgendwo rein gehen. Hinter jeder Tür, die wir aufbrechen, lauert ein Fettnäpfchen. Verhaften wir eine OK Gruppierung, zum Beispiel eine Rockerbande, heißt es anschließend, die Berliner Polizei hätte etwas gegen Motorradfahrer. Genau wie bei Ausländern. Das kotzt mich an! Wir haben nichts gegen alle, solange sie sich an die Spielregeln halten.“
Katzorke nickte bedächtig mit dem Kopf.
„Katzorke, ich will und kann auf solche lancierten Meinungen keine Rücksicht nehmen! Gelaber überlasse ich unserem Pressesprecher. Eigentlich brauchen wir in Zukunft eine PR Abteilung. Imagepflege! So schlimm ist es geworden. Nur hat das mit unseren Polizeiaufgaben eigentlich nichts mehr zu tun. Berlin hat mehr als sechzig Milliarden Schulden, und von dem, was übrig ist, sollen wir die Sicherheit der Berliner Bürger gewährleisten. So sieht es aus.“
Katzorke nickte energisch.
Müller kam nun langsam wieder auf Normaltemperatur.
„Stimmen Sie ihren Einsatz mit dem SEK ab! Viel Glück, Katzorke!“
Mit einer Handbewegung entließ er seinen Kommissar.
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