Zu später Abendstunde unter der Woche würde sich dort bestimmt niemand aufhalten. Er fuhr mit seinem Kombi dort hin.
Auf einem der Gartenwege war mit geübten Griffen im Dunkeln bald seine Überwachungsdrohne in Startposition gebracht.
Geschickt lenkte er sie per Fernsteuerung dicht an den beleuchteten Fenstern im dritten Stockwerk vorbei. Das Flugmanöver war nicht einfach. Bäume mit ausladenden Ästen standen im Weg.
Zehn Minuten Akkulaufzeit, dann musste er mit den Aufnahmen fertig sein.
Als sein Fluggerät von der Erkundung zurück war, packte er es vorsichtig in eine große Sporttasche. Augenblicklich sah es so aus, als käme er vom Training in einem der Mariendorfer Sportvereine.
Zu Hause wollte er die Aufnahmen gleich anschauen. Gemütlich bei einem Gläschen Weinbrand mit Cola.
Bekannt war diese alkoholische Mischung auch unter dem Namen „Futschi“!
Wer schnell aufsteigt, läuft Gefahr, eine große Anzahl von Neidern auf den Plan zu rufen.
Der neuen Kommissarin Fatma, Deutsch Türkin der dritten Generation, waren alle Vorbehalte gegen ihre Person innerhalb der Abteilung „Organisierte Kriminalität“ im LKA bewusst. In der Reihenfolge ihrer Bedeutung.
Erstens Frau, zweitens aus einer türkischen Familie, drittens Berufsanfängerin.
Trotzdem hatte sie vor, sich Respekt innerhalb der Behörde zu verschaffen. Vor allem in ihrer Abteilung.
Nicht Auffallen als vornehmste Berufsauffassung, lautete die Dienstanweisung ihres Vorgesetzten Müller. Schlaflose Nächte hatte sie seit dieser Ansage verbracht. Einfach Ignorieren erschien gefährlich, denn sie war ja noch in der Probezeit.
Die zerstörerische Wirkung dieses inneren Konflikts konnte sie jeden Morgen im Spiegel beobachten.
„Meine Haare sind krank.“
Ein Phänomen, das jeden Tag sichtbarer wurde. Fatmas gewaltige, bläulich-schwarze Haarpracht spiegelte ihren Seelenzustand wieder wie eine Flagge die Windstärken. Von Tag zu Tag hingen sie schlapper auf ihrem Kopf.
Sie dachte an das seltsame Gehabe um ihren Vorgänger. Ob er in eine ähnliche Lage gebracht worden war?
Ein feines Gespür für menschliche Abgründe hatte ihr gleich signalisiert, dass die netten Kollegen imstande waren, Gemeinheiten auszubrüten, die sich gewaschen hatten. Um zum Beispiel eine Versetzung herbeizuführen.
Fatma besaß auch genügend Fantasie, sich das öde Arbeitsleben in einer Provinzstadt vorzustellen. Etwa in Brandenburg.
„Nach Brandenburg will ich auf keinen Fall!“
Sie starrte die leere weiße Wand ihrer Bürozelle an. So leer, wie Brandenburg, wo trotzdem Fremde oder fremd Aussehende oftmals von vornherein auf Misstrauen stießen. Wo in manchen Dörfern Neonazis die Bevölkerung terrorisierten.
„Niemals nach Brandenburg!“
Fatma wollte herausfinden, was ihrem Vorgänger widerfahren war. Die Aussagen der Kollegen über ihn waren ausweichend.
„Der war ein Einzelgänger. Keine Ahnung, was er jetzt macht. Frag am besten mal Müller!“
Die meisten der von ihm bearbeiteten Fälle waren mit dem Vermerk „Erledigt“ abgelegt. Wirklich, eine phänomenale Aufklärungsquote!
Da reichte noch nicht einmal ihre eigene aus der Zeit im Drogendezernat heran. Obwohl Mehmet so kooperativ gewesen war, seiner jüngeren Schwester die entscheidenden Hinweise aus der Szene zu liefern. Allerdings nicht allein aus Familiensinn.
So war er auch ganz nebenbei Konkurrenten los geworden und hatte seine eigene Position im Handel gestärkt. Seine Geschäfte liefen seitdem von Tag zu Tag besser.
„Mehmet, das darf niemand erfahren!“
Vom Charakter her war er mehr der legere Typ. Unter Schwerkriminellen hätte er sich bald verdächtig gemacht, zu viel geredet, zu viele Späße gemacht. Einmal im Visier der Mafia, wäre ihre Verbindung bald aufgeflogen. Mehmets Schwester bei der Polizei!
„Dann gute Nacht!“
Fatma redete manchmal halblaut vor sich hin. Für Außenstehende Worte ohne Sinn. Während ihrer Schlaflosigkeit war ihr auch die eigene Schulzeit in Erinnerung gekommen. Gesichter wieder aufgetaucht, an die sie sich lange nicht mehr erinnert hatte.
„Wie hieß eigentlich mein erster Liebhaber?“
Sie kritzelte Namen auf ein Blatt Druckerpapier. Zum Einzugsgebiet ihrer ehemaligen Schule hatten auch die Betonhochhäuser der Neuköllner Gropiusstadt gehört. Seit Kindesbeinen daran gewöhnt, von Jugendbanden kontrolliert zu werden.
„Kriminelle Jugendbanden. Für Fatma ein Widerspruch an sich.“
Aus der Sicht von Kriminologen hatten viele Karrieren in Jugendgangs begonnen. Schnell folgten daraus Straftaten wie bewaffneter Raubüberfall oder schwere Körperverletzung. Sexuelle Nötigung oder Schutzgelderpressung waren dann auch nicht mehr weit.
„Täter im Alter ab vierzehn? Mehr Opfer als Täter.“
Eine Nacht lang hatte sie halb träumend, halb wachend mit ihrer eigenen Vergangenheit gerungen. Dann, vormittags im Büro, die entscheidende Idee. „Wenn ich mich schon aus den aktuellen Aktivitäten der OK heraus halten soll, dann bleibt mir doch nur noch eines: Jugendkriminalität. Die organisierten Jugendbanden.“
Ihre Zukunft verband sich mit Jugendgangs!
„Präventive, sinnvolle Polizeiarbeit!“
Sie würde junge Menschen vor dem Knast bewahren.
Mit dem Rückgrat einer solchen Berufsauffassung hellte sich ihre Laune von Minute zu Minute auf.
Sie spazierte in die Teeküche, wo eine Kaffeemaschine stand und gönnte sich einen Milchkaffee. Bis Mittag fabrizierte sie ihren Matchplan.
Nach außen ganz offiziell die Vorgaben ihres Vorgesetzten einhalten. Scheinbar dösend den „Erledigt“ Aktenbestand verwalten, aber nebenbei unauffällig die eigene Perspektive gestalten.
Ein Kollege bemerkte ihre veränderte Stimmung.
„Na, Kollegin, inzwischen schon eingelebt?“
„Ja, alles gut.“
Schnell verzog sie sich wieder in ihr Büro. Im Beziehungsgeflecht dieser Bürogemeinschaft schien jede Regung bemerkt zu werden. Wenn sie eines Tages würde Erfolge vorweisen können, sollte das für alle eine Überraschung sein. Sie träumte ihren Weg sogar noch ein bisschen weiter. Von Gehaltsklasse zu Gehaltsklasse, über diese Dienststelle hinaus. Eine normale Laufbahn, wie in jeder Behörde.
Am Wichtigsten war jedoch, dass sie sich mit einer Stelle als Platzhalterin nicht zufrieden gab. Die Herren sollten sie kennenlernen!
Im schmalen Lichtschein des trüben Butzenfensters ihres Büros sah sie auf einmal Bienen schwirren. Bloß das Schattenspiel eines Tischventilators, den sie zur Belüftung mitgebracht hatte. Aber sie sah anstatt flirrenden Schatten Bienen im Taurusgebirge von Berghang zu Berghang fliegen, um aus Blütennektar süßen Honig zu destillieren.
„Um meine Identität nicht zu verlieren!“
Mit neuem Selbstbewusstsein fing Fatma an, sich einen Überblick über die auffälligsten jugendlichen Straftäter zu verschaffen. Der Aktenbestand gab einiges her. Besonders interessierten sie die Jugendlichen, die ihre Straftaten in Gegenden verübt hatten, wo sie selbst früher zu Hause war.
Kollege Kaiser, von ihr insgeheim auf den Namen „Stoppelkopf“ getauft, steckte seinen Kopf durch die zuvor geöffnete Bürotür herein.
„Auch einen Kaffee?“
„Ich hatte gerade.“
„Ja?“
„Danke! Also im Moment, nein!“
Sie ahnte im Voraus, was auf sein umsorgendes Getue zwangsläufig folgen würde. Einmal eingewilligt, würde er von da an täglich ohne Anzuklopfen seinen „Stoppelschnittkopf“ durch ihre Bürotür schieben, um auf seine schleimige Art ein Kaffeeangebot abzugeben.
Der Kollege sah enttäuscht aus.
„Ich hole mir gerade auch einen.“
„Runter!“ Ergänzte sie gedanklich mit schnippischer Miene.
Der Stoppelkopf hatte an ihrer Tür gefälligst anzuklopfen! Wie jeder andere unangemeldete Besucher auch!
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