„Oh, fraglos“, räumte Welbur ein und betupfte geziert einen Mundwinkel. „Wobei mir doch scheint, dass ein Soldat ein härteres Los erträgt als eine Mutter mit ihrem hilflosen Kind.“
„Ihr Herren, solche Reden führen zu nichts“, warf der König ein. Er erhob sich von seinem Thron und ging zu der Karte im Zentrum der Versammlung. Am Rand des farbigen Mosaiks blieb er stehen. „Es wird noch lange dauern, bis alle Schäden beseitigt sind, und dabei spreche ich nicht von den seelischen Wunden, die manchem von uns zugefügt wurden. Doch bei aller Not, die wir noch innerhalb des Reiches vorfinden, dürfen wir die Sicherheit seiner Grenzen nicht außer Acht lassen.“
„Ah, die Grenzen“, seufzte Welbur ta Andarat und lächelte sanft. „Sie scheinen Eure Majestät und unseren geschätzten Gardekommandeur weit mehr zu sorgen als die Not der Menschen, die innerhalb dieser Grenzen leben.“
„Genug!“ Der Ratsherr, der seine Familie bei dem Beben verloren hatte, erhob sich und sah den Hochgeborenen erregt an. „Es steht Seiner Majestät und dem Hochgeborenen ta Enderos sehr wohl an, sich um die Sicherheit des Landes zu sorgen. Ich habe den Spaltpass gesehen, Hochgeborener ta Andarat, denn im Gegensatz zu Euch nahm ich die Mühsal auf mich, ihn persönlich in Augenschein zu nehmen. Er ist unheimlich, dieser Pass, und er ist fraglos eine Pforte in unser Land.“
Ta Andarat hatte die Spitze wohl verstanden und wich ihr elegant aus. „Da Ihr, Hochgeborener ta Halda, den Pass bereist habt, gab es kein Erfordernis, dass ich Eurem Beispiel folge. Euer Urteil ist geschätzt im Kronrat, das weiß ein jeder hier. Es wäre sinnlos gewesen, mich der gleichen Mühsal zu unterziehen.“
„In ganz Alnoa haben die steinernen Hochbauten, Signaltürme und Festungsanlagen unter den Erschütterungen gelitten. Alles, was besonders fest gefügt war, wurde auch besonders stark gerüttelt.“ Der König gab Daik ta Enderos ein knappes Handzeichen. „Der Kommandant unserer Gardetruppen kann hierzu Genaueres sagen. Wir sollten seine Worte gut beachten, er hat in den letzten Zehntagen die Grenzfesten besucht und weiß von dort zu berichten.“
Gardekommandeur ta Enderos trat ebenfalls vor, blieb aber respektvoll einen halben Schritt hinter dem König stehen. Er war ein kleiner und eher schmächtiger Mann und sah, da er keine Rüstung der Garde trug, keineswegs beeindruckend aus. Von diesem Erscheinungsbild ließ sich jedoch keiner der Ratsherren täuschen. Daik ta Enderos war klug, zäh und tapfer, was ihn zur ersten Wahl als Kommandeur machte. Er war bei den Gardetruppen geachtet und beliebt und, zum Bedauern einiger Hochgeborener, ein unbestechlicher Freund und Verbündeter des Königs. Ta Enderos trug das bequeme, weit fallende Gewand des alnoischen Adels, verzichtete jedoch auf die schreiend bunten Farben, die so geschätzt waren.
„Ihr hochgeborenen Herren und ehrenwerten Mitglieder des Kronrates“, begann Daik seine Ausführungen. „Wie Ihre Majestät erwähnte, haben nicht nur unsere Dörfer und Städte gelitten, sondern auch die Befestigungen. Mauern verschoben sich oder stürzten ein, Dampfkanonen und ihre Kessel wurden aus den Bettungen gedrückt und dabei beschädigt, andere sogar zerstört. Soldaten wurden von Trümmern erschlagen oder erlitten schwere Verletzungen.“
„Wohl kaum weniger als bei der zivilen Bevölkerung“, warf Welbur ta Andarat ein.
„Sicher nicht“, sagte Daik kalt. „Doch die zivile Bevölkerung steht auch nicht auf den Wällen, um diese zu verteidigen. Obwohl es sein mag, dass diese Zeit bald kommt.“
Welbur wedelte mit der Hand. „Ja, ja, solche Behauptungen haben wir schon oft genug gehört.“
Ein anderes Ratsmitglied beugte sich vor und sein Gesicht zeigte Betroffenheit. „Ich dachte, die Verluste der Garde hielten sich in Grenzen, so bedauerlich sie auch sicherlich sind.“
„Ja, die Garde kam recht glimpflich davon“, bestätigte der kleine Kommandeur. „Allerdings dürft Ihr nicht vergessen, verehrtes Ratsmitglied, dass viele Truppen aus den Festungen abgezogen wurden, um beim Wiederaufbau der Städte und Dörfer zu helfen. Im Augenblick sind die Grenzfesten geschwächt und mit der neuen Festung Nerianet, die den Spaltpass sperrt, muss eine weitere Anlage bemannt werden.“
„Ist dies der Grund, warum Ihr die Barbaren ins Land holt?“ Welbur ta Andarat blickte auf seine Fingerspitzen, hauchte dagegen und polierte sie am Stoff seines Gewandes.
„Barbaren?“ Daik runzelte die Stirn. „Ihr meint die Pferdelords?“
„Ich glaube, so nennt man sie wohl.“
Der Ratsherr der Stadt Gendaneris erhob sich. „Als unsere Stadt von den Korsaren berannt wurde, da haben die Pferdelords keinen Augenblick gezögert, uns zu Hilfe zu eilen. Als Vertreter von Gendaneris werde ich keine Beleidigung dieser tapferen Männer dulden.“
Welbur blinzelte überrascht und nickte zustimmend. „Ich hatte keinerlei Beleidigung im Sinn. Wenn dies so verstanden wurde, so bedauere ich das ausdrücklich. Ich wollte nur zu bedenken geben, dass das Pferdevolk ein … anderes … Volk ist und sicherlich Gebräuchen huldigt, die uns fremd sind.“
„Als die Legionen der Orks vor dreißig Jahren unsere Wälle berannten, da waren es die Beritte der Pferdelords, welche die entscheidende Wende herbeiführten“, mahnte der König und erhielt zustimmendes Gemurmel.
„Und es waren Pferdelords, welche die Heimtücke der Magier von Lemaria aufdeckten und das Volk der krebsartigen Irghil an unsere Seite brachten“, fügte Daik hinzu. „Die Männer des Pferdevolkes sind uns eine willkommene Hilfe und wir stehen in ihrer Schuld.“
„Nun, für Euch, verehrter Daik ta Enderos, gilt dies wohl in besonderem Maße.“ Die Ironie in Welburs Stimme war unverkennbar.
Der brave Gardekommandeur erbleichte für einen Augenblick, denn er wusste wie alle anderen, worauf der Hochgeborene anspielte.
Vor nunmehr fünf Jahren hatten Pferdelords und Gardekavallerie einen Feldzug in das Reich des Schwarzen Lords führen wollen. Der Renegat Garwin hatte erfahren, dass sein Widersacher Nedeam das Vorauskommando führte, und einen hinterlistigen Plan ersonnen, um seinen persönlichen Feind zu vernichten. Seine Männer töteten einige Gardisten und berichteten dem Pferdefürsten in deren Uniformen, die Garde werde nicht kommen. Dadurch war der Pferdefürst gezwungen, den geplanten Kriegszug abzusagen. Zugleich trat Garwin als Pferdelord vor Daik ta Enderos und berichtete ihm, die Pferdelords hätten sich gegen den Kampf entschlossen. Der getäuschte Daik ließ seine Gardekavallerie heimkehren, und so wurde Nedeam mit seinem kleinen Vorauskommando im Feindesland isoliert. Nur der Feueratem der Lederschwingen bewahrte ihn und die Stadt Merdoret vor dem Untergang.
Der Makel, dass er sich von Garwin hatte täuschen lassen, nagte an Daik ta Enderos, obwohl ihn keine wirkliche Schuld traf. Er atmete tief durch, um die Fassung zu bewahren. „Es ist keine Frage der Schuld, sondern eine Frage der Waffenbrüderschaft und Freundschaft“, erwiderte er mit beherrschter Stimme.“
„Nun, es stünde dem Stolz unseres Königreiches besser an, wenn das Pferdevolk beim Wiederaufbau hilft und die Garde entlastet, sodass unsere eigenen Männer wieder die Wälle besetzen.“
„Ich weiß nicht, wie gut die Pferdelords im Steineschleppen sind“, sagte Daik grimmig, „aber im Töten von Feinden sind sie vortrefflich.“
„Was auch für die tapfere Garde gilt“, stimmte Welbur lächelnd zu, der spürte, dass er im Augenblick an Boden verlor. „Sie hat sich schon oft auf das Beste bewährt, und dies gilt unbenommen auch für Euch, verehrter Daik ta Enderos, und Euren Sohn. Ich hörte, er ist derzeit in der Königsstadt des Pferdevolkes, in Enderonas?“
„Im Auftrag der Krone, ja“, bestätigte der König anstelle seines Freundes. „Pferde für unsere Gardekavallerie und einige Dampfkanonen für das Pferdevolk.“
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