1. Kapitel
Hätten die Bahnbediensteten nicht gestreikt, wäre N rechtzeitig vor Abfahrt des Omnibusses angekommen, um gleich weiter in die Pyrenäen zu fahren und seine große Abenteuertour zu beginnen. Auf dem Rücken liegend, würde er den wilden Thymian riechen, die blauen Veilchen und weißen Margeriten anschauen und in die untergehende Sonne blinzeln.
Doch jetzt stand er auf dem abgasgeschwängertren Bahnhofsvorplatz. Die Passanten stanken nach Deodorant oder Einheitsparfüm und er war gezwungen, sich ein Hotelzimmer zu suchen und erst morgen weiterzufahren. Nach alter Gewohnheit ärgerte er sich zunächst, stellte aber fest, dass er alle Zeit der Welt hat. Für sein Vorhaben spielten ein oder zwei Tage wirklich keine Rolle.
Gleich neben dem Bahnhof befand sich ein Hotel der Kette, in deren Häusern er stets auf seinen Geschäftsreisen abgestiegen war. Fast automatisch, ohne groß nachzudenken, führte sein Weg dorthin. Heute erfuhr er nicht die übliche Aufmerksamkeit seitens des Hotelpersonals. Später ankommende Gäste wurden vor ihm abgefertigt. Als er fragte, was das solle, erfuhr er, dass in diesem Hause selten Rucksacktouristen absteigen würden.
„Nennen sie mir bitte eine Absteige in der Nähe, wo solche Penner wie ich für eine Nacht unterkommen können“, sagte er verärgert. Er war es nicht gewohnt, so behandelt zu werden und wollte gerade wieder gehen, als die Empfangsdame meinte, dass sie sich etwas unpassend ausgedrückt habe.
„Für eine Nacht können sie selbstverständlich ein Zimmer bekommen. Haben sie aber bitte Verständnis dafür, dass sie mit einer Kreditkarte einchecken und das Meldeformular ausfüllen müssen, mein Herr.“
Plötzlich machte N dieses Theater Spaß und er suchte umständlich seine Kreditkarte zunächst in seinem Rucksack. Als er sie angeblich nicht fand, sagte er: „Ach richtig, ich habe sie in meiner Hosentasche.“
Die Hotelangestellte nahm die Karte, zog sie kurz durch den Scanner und gab sie nach dem Ton, der die Deckung des Kontos anzeigte, N zurück.
„Hier ist ihr Schlüssel. Das Zimmer befindet sich im fünften Stock. Sie können den Fahrstuhl benutzen. Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt in unserem Hause.“
N nahm den Schlüssel. Es reizte ihn, die Sache auf die Spitze zu treiben und er fragte: „Wo finde ich den Busbahnhof; ich will morgen mit dem 1€ - Bus weiterreisen.“
„Von hier aus gesehen, befinden sich die Haltestellen direkt hinter dem Bahnhof“, antwortete die Angestellte hinter dem Rezeptionstresen und wandte sich dem nächsten Gast mit besonderer Höflichkeit und Aufmerksamkeit zu.
N fuhr mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock und betrat sein Zimmer. Das Fenster gewährte einen Blick auf den Hinterhof.
Nachdem er ausgiebig geduscht hatte, entschloss er sich, in einem Restaurant außerhalb des Hotels zu essen und noch einen kleinen Spaziergang durch die, für ihn, fremde Stadt zu machen.
Als er den Fahrstuhl verlies, bemerkte er eine eigenartige Unruhe in der Hotelhalle. Die Empfangsdame hatte einen hochroten Kopf und schien gerade ihre persönlichen Sachen zusammenzupacken. Ein Mann im dunklen Anzug rang um Fassung. Als er N vor dem Fahrstuhl entdeckte, ging er eilends auf ihn zu.
„Monsieur N, ich bin untröstlich, wie sie in unserem Hause behandelt worden sind. Bitte erlauben sie mir, die Hausdame zu beauftragen, ihre Sachen in ein anderes Zimmer zu räumen und auf Kosten des Hauses zu dinieren“, flüsterte der Hoteldirektor.
„Ich glaube, nicht richtig zu verstehen“, antwortete N.
„Es ist mir unerklärlich, warum man sie nicht erkannt hat.“
„Ich bin das erste Mal in dieser Stadt und deshalb auch noch nie in ihrem Hause abgestiegen“, erwiderte N amüsiert.
„Unsere Hotelkette kennt all seine Premiumgäste. Die Empfangsdame hätte anhand ihrer Kreditkarte sofort erkennen können und müssen, dass sie zu den besonderen und bevorzugten Gästen unserer Häuser zählen.“
„Zur Entschuldigung ihrer Angestellten muss man aber feststellen, dass ich als Rucksacktourist ihr Haus betreten habe“, versuchte N die Hotelangestellte in Schutz zu nehmen.
„Bitte verzeihen sie uns dieses Missgeschick. Wenn sie einverstanden sind, lasse ich sie umquartieren. Den neuen Schlüssel erhalten sie an der Rezeption.“
N war einverstanden, machte aber vor dem Diner noch den beabsichtigten Spaziergang, um die Abfahrtzeiten der Busse zu studieren. Wie erwartet, fand er eine Busverbindung in die ungefähr 50 Kilometer entfernte letzte größere Stadt am Fuße des Bergmassives.
Während des Essens auf Kosten des Hauses dachte N darüber nach, dass dies die letzte Vorzugsbehandlung während der nächsten zwei oder drei Monate gewesen sein wird.
„Ich werde und will es nicht vermissen. Endlich geht mein großer Traum, den ich mein ganzes bisheriges Leben geträumt habe, in Erfüllung“, dachte er.
So richtig konnte er das Abendessen nicht genießen; in Gedanken war er schon auf der großen Tour.
2. Kapitel
Der Bus fuhr, für südfranzösische Verhältnisse, relativ pünktlich ab. N hatte seinen Rucksack im Laderaum verstaut und einen Platz in der Nähe der hinteren Tür gefunden. Gedankenverloren schaute er aus dem Fenster. So richtig konnte er seinen Schritt noch immer nicht realisieren.
„So, jetzt gibt es für mich kein zurück. Zivilisation lebe wohl! Keine Sorgen mehr um den Betrieb. Vielleicht hätte ich ihn teurer verkaufen sollen. Aber dann wäre alles nicht so schnell gegangen“, überlegte er und hätte es sich fast selbst laut erzählt.
Er hatte kaum einen Blick für die wunderschöne Landschaft. Es wurde bergiger. Nach drei Stunden hatte der Busfahrer, immer noch recht pünktlich, das Ziel erreicht und verkündete, dass für diese Buslinie hier Endstation sei.
„Nach ihrem Rucksack zu urteilen, wollen sie bestimmt weiter bis zur alten Bergwerksstadt, oder?“ N bejahte diese Frage des Busfahrers.
„Ein Kollege fährt in einer Stunde mit einem Minibus dorthin. Die Haltestelle ist auf der anderen Seite des Platzes.“
N bedankte sich für die Auskunft und schulterte seinen Rucksack, um über den großen Platz, auf dem nicht nur Pkw, sondern auch Busse, abgestellt waren, zu laufen. Alles sah verlassen und trostlos aus. Die verfallene Fabrikruine ließ vermuten, dass dieser Ort einmal bessere Zeiten gesehen haben muss. Vergebens suchte N ein Café oder wenigstens eine Imbissbude. Schließlich setzte er sich auf einen großen Stein und wartete.
Zehn Minuten vor der planmäßigen Abfahrt des Busses schlug ihm ein unbekannter Mann auf die Schulter und sagte: „Sie wollen bestimmt mit mir zur alten Bergwerksstadt fahren.“
„Wenn sie der Busfahrer sind, wird es so sein“, antwortete N.
„Sie können schon einsteigen, wenn sie wollen.“
„Wo ist denn ihr Bus?“
„Sie sitzen fast davor. Es ist der Iveco Daily hinter ihnen.“
Fünf Minuten nach der offiziellen Abfahrtszeit sagte der Busfahrer, dass er losfahren würde, da offenbar niemand mehr mitfahren wolle.
N wunderte sich, dass er der einzige Fahrgast war und fragte, ob der Bus immer so überbelegt wäre.
„Wissen sie, in der Schulzeit transportiere ich zwei oder drei Kinder und ab und zu mal alte Weiber, die kein Auto haben.“
„Rentiert sich diese Linie denn?“, fragte N und erhielt zur Antwort, dass der Staat mit diesen Buslinien seine soziale Verantwortung wahrnehmen würde.
„Wie weit wollen sie“, fragte der Busfahrer nach einigen Minuten.
„Bis zur Endstation“, antwortete N.
„So meine ich es nicht. Mich interessiert, wie weit sie touren wollen.“
„Ich verstehe ihre Frage nicht.“
„Solche Männer wie sie gehen allein in Richtung Westen; wenn es klappt, sogar die 400 Kilometer bis zum Atlantik. Ich bewundere euch Typen. Ihr seid die letzten richtigen Männer mit Mut. Ihr werdet bestimmt nie aussterben.“
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