Herbert E. Große - Poppichs Flucht

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Poppich – eigentlich Paul Thiele – arbeitet 1965/66 als Kellner in einem Interhotel in der DDR. Anfangs erfährt man auf recht amüsante Art und Weise etwas über die Sonderstellung dieser «DDR-Nobelhotels», die Beschäftigten und die «besonderen Gäste» dieser Häuser.
Zusammen mit zwei weiteren Kellnern und drei Köchen aus anderen Interhotels wird Poppich1966 als «Repräsentant des Arbeiter- und Bauerstaates» zur «Weiterbildung» nach Bulgarien abgeordnet. Von den sechs «Repräsentanten» fliehen nach und nach fünf in den Westen. Poppich flieht als letzter. Was er bei der Flucht erlebt und erleidet, ist voller Spannung und Dramatik.
Der Autor hat dieses bereits im November 2012 erstmals erschienen E-Book überarbeitet und marginale Änderungen vorgenommen.

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Kleine Vorbemerkung des Autors

Wenn Sie mögen, kann ich Ihnen von fünf Fluchten aus der DDR erzählen.

Aber es sind keine Heldengeschichten. Denn Helden sind nur diejenigen, die ihr Leben für andere aufs Spiel setzen.

DDR-Flüchtlinge hingegen waren nur mutige Egoisten. Sie haben ihr Leben aus Eigennutz riskiert.

Erzählt haben sie von ihrer Flucht selten, denn dann hätten sie Nachahmer gefährdet.

Außerdem waren sie Straftäter.

Für die DDR-Justiz waren sie als Republikflüchtlinge Verbrecher und gehörten für mehrere Jahre ins Zuchthaus Bautzen II oder ins Frauenzuchthaus Hohenschönhausen.

Im Westen waren sie, wenn sie nicht direkt die innerdeutsche Grenze, die Mauer, überwunden haben, auch Grenzverletzer. Sie hatten jedoch einen Rechtfertigungsgrund für ihre Tat.

Auf jeden Fall hatten sie Zivilcourage - und das nicht zu wenig.

Ich kann dem Leser aber versichern, dass sich die Fluchten tatsächlich so ereignet haben, wie ich sie Ihnen schildern werde. Nur die Namen habe ich geändert.

Und noch eines sei Ihnen, dem geneigten Lesern, versichert: Jede Flucht hatte ihre eigene Tragik und wäre es wert, ausführlich geschildert zu werden.

Doch ich will Ihnen nur von einem Flüchtling und seiner Flucht ausführlich erzählen. Nennen wir ihn Paul Thiele oder - wie seine Kollegen ihn nannten - Paul Poppich.

Nach dem ersten Erscheinen dieses E-Books am 27. November 2012 habe ich einige marginale Änderungen vorgenommen. Paul Thiele (Poppich) war damit einverstanden.

Herbert E. Große

1. Kapitel

„Na, Poppich, Interesse an Bulgarien?“

Paul drehte sich um und sah den Restaurantchef Weser, den er schon an der Stimme erkannte. Bevor er etwas sagen konnte, sprach der Restaurantchef weiter: „Ich habe sie beobachtet. Wenn sie wollen, empfehle ich sie.“

„Ich habe noch nie einen Witz aus ihrem Munde gehört, Herr Weser.“

„Überlegen sie es sich.“

Paul, den alle nur Poppich nannten, blieb noch einen Augenblick vor dem Schwarzen Brett mit dem Hinweis, dass Kellner und Köche für einen Einsatz in Bulgarien gesucht werden, stehen und begann seine Arbeit im Restaurant. Er hatte Bulgarien bald vergessen und dachte erst wieder an den Aushang, als er kurz vor dem Einschlafen war.

Warum mag dieser alte Mann mich?

Er hat schon in allen großen Häusern in Europa gearbeitet. Alle Kollegen haben nur Hochachtung vor ihm und trauen sich nicht, ihn anzusprechen. Immer schicken sie mich vor, und ich muss mit ihm sprechen oder ihn etwas fragen, überlegte Paul.

Paul Thiele schlief bald ein. Morgen war sein freier Tag, und danach ging es in die Frühschicht.

Er genoss seinen freien Tag, seinen Ruhetag. Erst am späten Vormittag stand er auf. Zunächst flanierte er durch die Stadt. Es war schön zu sehen, dass alle Leute arbeiten mussten und in ihrem grauen Alltag versanken. Paul dagegen fühlte sich gut. Es war heute etwas Besonderes, weil er sich in der Bäckerei ein Brötchen kaufen und dieses auf der Straße essen konnte.

Danach trank er in einer Art Caféhaus ein Kännchen Kaffee; in Magdeburg sagt man: „eine Portion“.

Hier fühlte er sich wohl. Es roch anders als in anderen Gaststätten. Das Linoleum wölbte sich an einigen Stellen. Paul staunte immer wieder, wie die Kellnerinnen es schafften, über diese Holperpiste elegant zu schweben. Die Tische hatten den typischen braunen Sprelacartbelag, der an einigen Stellen abgeblättert war. Tischdecken gab es nicht. Nur unter den Aschenbechern befand sich eine Serviette. Und auf jedem Tisch stand eine kleine Vase mit einer Blume.

Paul aber setzte sich hinter eine Art spanische Wand. Hier gab es zwei Tische mit weißen Tischdecken, und die Stühle hatten Kissen. Die Bedienungen nannten es den „Personalraum“. Damit war für jedermann klar, dass normale Gäste hier keinen Zutritt hatten.

Es dauerte einige Zeit, bis er seinen Kaffee bekam.

Für ihn wurde der Kaffee noch nach Oma-Art im Hinterzimmer richtig gefiltert. Paul liebte diesen Geruch des Filterkaffees. Er erinnerte ihn an zu Hause.

Meist servierte man ihm auch selbstgemachten Kuchen, den das Bedienungspersonal zu Hause buk und mit in das Café brachte. Der Kuchen und die Torten aus der Zentralbäckerei schmeckten nur, wenn man Hunger hatte.

Hier wurde er verwöhnt. Als Gegenleistung brachte er aus dem Intershop immer eine kleine Schokoladenleckerei oder auf Bestellung Perlonstrümpfe mit.

Als der Kaffee serviert wurde, sagte die Bedienung: „Ach, der Herr Poppich (auch hier kannte man Paul nur, als den Herrn Poppich) hat heute frei. Sie haben es gut. Wir müssen arbeiten.“

„Und was muss ich, wenn sie Ruhetag haben?", fragte er zurück.

„Das ist doch etwas anderes. Sie arbeiten in diesem großen Nobelhotel, und wir plagen uns in dieser Klitsche. Nie wissen wir, ob wir auch genug Kaffeepulver geliefert bekommen. Und die Gäste meckern über alles und warten darauf, dass es einmal besser wird, so wie es die Partei immer verspricht. Das macht doch keinen Spaß! Und wenn ein Fremder kommt, spricht kaum jemand, außer über das Wetter“, sagte die Serviererin und fügte hinzu, dass die Gerda heute zusätzlich freihabe und wir sie grüßen sollen, wenn sie gerade heute kämen.

„Ich komme gern zu ihnen. Es ist gemütlich hier. Und dass Gerda heute nicht da ist, finde ich schade. Grüßen sie sie von mir“, sagte Paul.

Als Bezahlung für den Kaffee legte er ein Tütchen Kokosflocken mit Schokoladenüberzug aus dem Intershop auf den Tisch und ging.

In der Straßenbahn, mit der er zur Wäscherei fuhr, beobachtete er die Leute. Besonders heute fiel ihm auf, dass alle irgendwie gleich und blass aussahen. Auch die DDR-Gäste im Hotelrestaurant sahen immer irgendwie uniformiert, hilflos und gehemmt aus. Nur die Leute aus dem Westen verhielten sich anders. Sie sahen auch anders aus.

Paul fand es plötzlich komisch, dass es ihm gerade an diesem Tag auffiel. Doch bevor er weiter seinen Gedanken nachhängen konnte, musste er aussteigen. Das letzte Stück hätte er auch den Bus nehmen können. Aber er hasste es, in so einem stinkenden Bus zu fahren, und ging lieber zu Fuß.

In der Wäscherei gab er seine benutzten Sachen ab, geordnet nach Wolle, Unterzeug und Hemden. Als ihm seine gestärkten, sauberen Frackhemden übergeben wurden, lobte er die Waschfrauen und holte, wie jedes Mal, eine Schachtel Westpralinen aus seiner Tasche.

Die Waschfrauen stürzten sich sofort auf die Pralinen, die gerecht aufgeteilt wurden.

Paul war zufrieden mit sich und der Welt. Wer trug in der DDR schon einen Frack? Nur die Kellner im Interhotel. Herr Weser trug sogar Cut und Stresemannhosen. Die DDR-Bürger dagegen waren stolz auf ihren neuen Dederonanzug, der meistens noch nicht einmal richtig passte.

Das Interhotel war wie ein Kokon. Außen und in der ersten Hälfte des Restaurants war es die typische DDR. Ab der zweiten Hälfte des Restaurants, in der Hotelhalle und in den Konferenzzimmern galten andere Regeln. Paul stellte sich so den Westen vor.

„Hier werden Illusionen verkauft“, sagte Herr Weser stets und fügte hinzu, dass hier der Marxismus keinen Zutritt hätte.

Als er zum Elbufer schlenderte, um auf einer Bank zu entspannen, fiel ihm wieder der Aushang am Schwarzen Brett ein. Bulgarien klingt nach Süden und Urlaub und vor allen Dingen nach Fremde, dachte er sich. Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie er mit einem kalten Bier am Strand liegen würde. Doch gerade jetzt fing es leicht zu regnen an und er war wieder im grauen Magdeburg. Es regnete noch den gesamten Tag, und er legte sich für den Rest seines Ruhetags ins Bett.

Schichtwechsel war für Paul immer am Mittwoch. An diesem Mittwoch regnete es richtig kräftig. Das Restaurantgeschäft lief schleppend, und er entschloss sich, wieder einmal im Intershop einzukaufen. Westgeld hatte er mehr als genug. Viele westdeutsche Gäste bezahlten mit DM statt Ostmark, weil ihnen die Umtauscherei zu nervig war. Außerdem waren die Preise selbst im Interhotel so, dass die Westgäste beim Bezahlen mit Westgeld es als billig empfanden.

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