Zu ihrem Ehemann gewandt, sagte sie noch: „Bitte, verzeih mir meinen Fehltritt.“
„Und wie soll es weitergehen?", fragte Frau Markgraf.
Paul ergriff als Erster das Wort.
„Wie ich sehe, hat Frau Winkler das alles mitgenommen. Frau Vorsitzende darf ich einen Vorschlag zur Wiedergutmachung für mein Fehlverhalten machen?“
„Bitte, was schlagen sie vor?“
Das „ magische Auge “ sagte nur: „Da bin ich aber gespannt.“
Paul begann: „Wie alle sehen, ist Frau Winkler mehr als urlaubsreif. Meine Familie besitzt in der Nähe von Dresden ein kleines, bescheidenes Wochenendhaus, das auch für mehrere Personen urlaubsgeeignet ist. Ich würde dafür sorgen, dass die Eheleute Winkler dort kostenlos zwei Wochen Urlaub machen können. Da haben sie Gelegenheit, sich auszusprechen und wieder zusammenzufinden.“
„Was halten die Eheleute Winkler von diesem Vorschlag?", fragte die Vorsitzende.
Bärbel Winkler nickte leicht, sah aber nicht so glücklich aus.
Das „ magische Auge “ fand den Vorschlag annehmbar, sagte aber, dass er in diesem Jahr leider keinen Urlaub mehr machen könne.
Jetzt ritt Paul erneut sein berühmter Teufel, und er schlug vor, Frau Winkler solle doch allein, vielleicht mit einer Freundin, den Urlaub dort verbringen.
„Darüber kann man nachdenken“, sagte das „ magische Auge ".
Er ergänzte noch: „Aber meine Frau hat keine Freundin, die mit ihr den Urlaub machen könnte.“
„Das ist schlecht“, bemerkte Paul.
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Bärbel, Verzeihung, Frau Winkler, sie kennen doch meine Bekannte Gerda aus dem Café. Gerda wollte schon immer einmal solch einen Urlaub machen. Wollen sie vielleicht zusammen mit Gerda in das Wochenendhaus fahren? Ich würde meine Bekannte auch selbst fragen, wenn sie es möchten.“
Bärbel Winkler und selbst Frau Markgraf erstarrte fast das Blut in den Adern bei dieser Unverfrorenheit des Paul Thiele.
Frau Markgraf fand als Erste wieder Worte und meinte, dass sie diesen Vorschlag für gangbar halte. Wenn alle einverstanden seien, solle der Herr Thiele alles regeln und organisieren.
Da die übrigen zustimmend nickten, schloss Frau Markgraf schnell die Sitzung und verpflichtete alle Anwesenden zum Stillschweigen, damit noch mehr Ärger und Gerede von der Familie Winkler abgehalten werde.
Es vergingen einige Tage, ohne dass die Affäre bekannt wurde. Nach einer Woche kam auch die offizielle Bestätigung, dass Paul für ein halbes Jahr nach Bulgarien abgeordnet sei.
Er wurde aufgefordert, am darauffolgenden Donnerstag nach Berlin in das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten in der Luisenstraße zu kommen, um dort seinen Reisepass abzuholen.
Jetzt, wo alles offiziell war, wurde Paul innerlich ruhig. Er sagte Herrn Weser Bescheid, dass er am Donnerstag nach Berlin bestellt worden sei, und bat darum, seinen freien Tag auf diesen Donnerstag zu legen.
Mit dem ersten Zug fuhr er von Magdeburg bis zum Hauptbahnhof in Berlin. Bevor der Zug Berlin erreichte, wurde er zweimal polizeilich kontrolliert und gefragt, ob er eine Genehmigung habe, nach Berlin zu fahren. Das Schreiben des Auswärtigen Amtes bewirkte, dass er ohne Schwierigkeiten in Berlin den Hauptbahnhof erreichte.
Paul war das erste Mal in Berlin. Er hatte vieles über Berlin gehört. Doch was er heute sah, entsprach nicht seinen Erwartungen. Vom Hauptbahnhof bis zum Ministerium in der Luisenstraße war es nicht weit, und er hatte noch mehr als fünf Stunden Zeit, bis er seinen Pass abholen konnte.
Der „Luxus“, den er hier sah, konnte nicht mit dem Leben im Interhotel in Magdeburg konkurrieren. Er wollte nicht unbedingt zum Alex. Irgendwie zog es ihn dorthin, wo er die Mauer sehen konnte. Wie oft hatte er sich vorgestellt, dass man diesen antifaschistischen Schutzwall irgendwie überwinden können muss, um in den anderen Teil Berlins zu gelangen.
Was hatte sein Vater von Westberlin erzählt?
„Da kann man bei Nacht auf der Straße die Zeitung lesen. So hell ist die Reklame.“
Anfang der fünfziger Jahre wollte er unbedingt mit der Familie in den Westen umziehen. Doch Mutter hatte Bedenken, alles stehen und liegen zu lassen und im Westen neu anzufangen. Ich glaube, Vater hat der Mutter bis zu seinem Tod wegen dieser Haltung heimlich Vorhaltungen gemacht, überlegte er.
Jetzt stand er in einer Sackgasse vor einer fast fünf Meter hohen Mauer und war gedankenversunken, als ein alter Mann zu ihm sagte: „Junge, dahinter ist erst die richtige Grenze. Das schafft man nicht mehr."
Paul wurde traurig und zugleich zornig. Hatte denn nicht Anna Seghers in ihrem Roman „Transit“ geschrieben: „Welchen Zweck soll das haben, Menschen zurückzuhalten, die doch nichts sehnlicher wünschen, als ein Land zu verlassen, in dem man sie einsperrt, wenn sie bleiben.“
Auf dieses Zitat hatte Paul einmal in der Schule hingewiesen, als die Pflichtlektüre „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers anstand.
Mein Gott, was gab das für Ärger und Diskussionen, bis er schließlich zugab, dieses Zitat missverstanden zu haben!
Jetzt stand er vor dem „Schutzwall der Antifaschisten“ und hatte plötzlich keinen sehnlicheren Wunsch, als die DDR zu verlassen.
In einer anderen Straße stand er wieder vor der Mauer und erinnerte sich, wie er davon geträumt hatte, mit einem Sprungbrett hinüberzuspringen. Jetzt sah er, dass das ein illusionärer Jugendtraum war. Aber man konnte mit niemandem über seine Ideen, die Mauer zu überwinden, sprechen.
Vater war tot, Mutter wäre gleich in Panik geraten. Nur mit einem Freund seiner Schwester hatte er einmal über eine Flucht gesprochen. Der hatte Verständnis, sagte aber, dass es im Westen bestimmt auch nicht besser wäre. So blieb Paul mit seinen Träumen allein. Je älter er wurde, desto weniger Leute waren aus Angst bereit, über dieses Thema zu sprechen. Die Stasi hörte immer mit, und schnell war man in Bautzen, wenn bekannt wurde, dass man Fluchtpläne hätte.
Paul hatte keine Ahnung, wie es im Westen ist. Er wusste nur, dass man dort frei sei. Und von Monat zu Monat fühlte er, wie es enger um seinen Hals wurde und er kaum noch atmen konnte.
Jetzt stand wenigstens Bulgarien an. Ein anderes Land, andere Menschen und ein anderes Leben! Egal, ob besser oder schlechter: Hauptsache raus aus diesem Staatsgefängnis! Und dabei ging es ihm in der Welt des Interhotels noch tausendmal besser als den anderen „Dederonanzügen".
Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten war in einem alten, schönen Haus untergebracht.
Gegen 16 Uhr war es so weit. Paul betrat das Ministerium und wurde in den Keller in eine Art Speisesaal geführt. Hier saßen noch fünf andere „Bulgarienkandidaten“, und er staunte nicht schlecht, als er unter ihnen einen Koch aus dem Magdeburger Interhotel sah. Ein Referent erschien mit sechs blauen DDR-Pässen und begrüßte die Anwesenden als „künftige Repräsentanten der DDR im Ausland“. Man konnte es spüren, dass der Rede kaum einer der zukünftigen Repräsentanten zuhörte.
Paul war mit seinen Gedanken schon auf der Fahrt nach Bulgarien, wurde aber plötzlich hellwach, als der Referent erklärte, dass man sich keinen Illusionen hinzugeben brauche. Eine Flucht aus Bulgarien sei genauso wenig möglich, wie die DDR illegal zu verlassen.
Halt mal, warum sagt er so etwas? Also muss es möglich sein, von Bulgarien aus in den Westen zu gelangen, überlegte er.
Ab jetzt stand für ihn fest, dass er die Flucht versuchen würde.
Die Rückfahrt nach Magdeburg unternahm er gemeinsam mit dem Koch, und es stellte sich schnell heraus, dass beide aufgefordert worden waren, mit anderen Kollegen nicht über die Abordnung nach Bulgarien zu sprechen.
Es dauerte nicht lange, bis der Koch fragte: „Ich dachte immer, sie heißen Paul Poppich. Im Ministerium hat man sie aber Paul Thiele genannt.“
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