1. Kapitel
Am Tag seiner Einschulung hatte die Großmutter väterlicherseits, sie stammte aus Sachsen, behauptet, dass Hubert Globig es nicht weit bringen würde, da er meschugge und ein Lüderjahn sei.
Dem widersprach die Kindesmutter, deren Familie sehr reich war und aus dem Ruhrgebiet stammte, energisch und sagte immer: „Mein Hubert ist zwar nicht der Fleißigste, aber hochintelligent. Er wird es einmal zu etwas Großem bringen.“
Der Großvater mütterlicherseits, ein erfolgreicher Industriekaufmann, vertrat hinsichtlich der Entwicklung seines Enkels stets die Auffassung, je mehr Macht man dem Schicksal beimesse, desto mehr beraubt man sich der Vernunft. Immer, wenn er diese Weisheit anbrachte, erklärte er, dass er dies bei Casanova gelesen habe.
Keiner der Großeltern behielt recht.
Hubert Globig besuchte zwar das Gymnasium, war aber nie der Klassenprimus. Nach dem Abitur studierte er zwei Semester „Irgendetwas“ in Heidelberg, kehrte in seine Heimatstadt zurück und wurde Briefträger.
Seine Mutter, die von ihm so überzeugt war, verstarb alsbald. Auch der Großvater lebte nicht mehr allzu lange und hinterließ seinem Enkelsohn neben einem Dreifamilienhaus in bester Wohnlage ein ansehnliches weiteres Vermögen.
Hubert Globig war in materieller Hinsicht ausreichend abgesichert und fühlte sich nicht zuletzt deshalb als Briefträger wohl. Dabei hatte er im Hinterkopf, dass er auch als Briefträger ein Postbeamter sei und damit alle Vorteile des Beamtendaseins genoss. Wenn er sich wegen dieses Berufes auch manchmal insgeheim schämte, fühlte er sich deshalb nicht erniedrigt. Er hielt sich selbst für glücklich, weil er sich rühmen konnte, sich selbst zu genügen.
Während seiner gesamten Dienstzeit bewarb er sich nie um einen Aufstieg in der Postbeamtenlaufbahn. Man nahm ihn so, wie er war. Schließlich verstaubte seine Personalakte irgendwo im Aktenschrank.
Beim Austragen der Post führte Hubert Globig gern - zum Teil auch laute - Selbstgespräche und war dafür bei seinen Postkunden bekannt.
Musste er Auslandspost zustellen, merkte er sich den Absendeort und las zu Hause intensiv darüber, was er fand. Bei der nächsten Postzustellung konnte er sich mit dem Empfänger über den Aufgabeort der Sendung wissend unterhalten.
Im Laufe der Jahre war das Selbstgespräch für ihn die angenehmste Art der Unterhaltung geworden. Keiner widersprach ihm und das machte ihn zufrieden. Das Selbstgespräch zog er auch einer Unterhaltung mit seiner Ehefrau vor. Diese war zwar nicht ungebildet, interessierte sich aber nur für Dinge, die sie selbst betrafen. Maßstab für sie waren die Lebensweisen der Darsteller der Vorabendserien und die Discounterangebote. Sie war stolz darauf, etwas nicht zu wissen und rechtfertigte dies mit einem überheblichen, hilflosen und mitleidigen Lächeln, indem sie bemerkte, dass man solches nicht zu wissen brauche, weil man ein ausreichendes anderes Wissen habe und fühlte sich dabei als das Maß aller Dinge. Außerdem habe sie weiß Gott keine Zeit, sich mit solchen Nebensächlichkeiten zu beschäftigen.
Hubert Globig hatte sich an diese Betrachtungsweise seiner Ehefrau gewöhnt. Für ihn war diese Selbsterniedrigung Ausdruck ihres Hochmutes. Als er sie kennenlernte, träumte er von einem Zweisiedlerdasein in einem Haus am Ende der Welt. Jetzt wollte er nur noch Einsiedler sein.
Im Gegensatz zu seiner Ehefrau hatte er Angst, nicht mehr genügend Zeit zu haben, alles Neue zu erfahren, zu erfassen und zu begreifen. Diese Angst trieb ihn um.
Als Hubert Globig pensioniert wurde, verschwand er vor der offiziellen Verabschiedung und ließ sich danach nie mehr auf seiner Dienststelle sehen. Er war mit sich und der Welt zufrieden.
Er konnte sich nicht erinnern, jemals ernsthaft krank gewesen zu sein. In letzter Zeit fühlte er sich jedoch stets müde und abgespannt, obwohl er sich das nicht erklären konnte. Auf Anraten seiner Ehefrau entschloss er sich, den Hausarzt aufzusuchen.
Aus dem Lautsprecher im Wartezimmer knarrte es: „Der Nächste bitte.“
Hubert Globig erhob sich und ging zum Arzt in das Behandlungszimmer.
„Guten Tag, nehmen sie bitte Platz“, sagte der Arzt und Hubert Globig setzte sich auf den angebotenen Stuhl.
„Na, was fehlt uns denn?“
„Also, was ihnen, Herr Doktor, fehlt, weiß ich nicht. Aber mir geht es gar nicht gut. Ich fühle mich in letzter Zeit schlapp und müde und habe kaum Appetit. Ich glaube, ich habe Burn-out.“
„Warum denn das?“, fragte der Arzt und Hubert Globig antwortete, dass diese Krankheit doch heute fast jeder hätte.
„Also in ihrem Fall kann das kaum sein. Sie sind als Briefträger schon in Rente. Wer überfordert sie denn?“
„Das weiß ich ja gerade nicht und komme deshalb zu ihnen.“
„Na, machen sie mal ihren Oberkörper frei, damit ich sie abhören kann.“
Nachdem der Arzt abgehört und den Blutdruck gemessen hatte, sagte er: „Also Herr Globig, ich kann nichts feststellen. Sie müssen, wie früher, wieder viel an der frischen Luft spazieren gehen und nicht nur im Sessel sitzen und Biere trinken.“
„Das sagt meine Frau auch immer, dass mir vielleicht das kalte Bier nicht bekommen würde.“
„Dann trinken sie weniger und warmes Bier. Ich verschreibe ihnen noch ein Medikament, damit sie besser schlafen können. Und denken sie daran, viel an der frischen Luft umherlaufen, Herr Globig.“
„Gut, ich werde am Nachmittag spazieren gehen, Herr Doktor.“
„Nein, sie müssen früh morgens an die frische Luft.“
„Aber da trage ich doch schon die Zeitungen aus. Also kann ich nur am Nachmittag spazieren gehen.“
Am Abend trank Hubert Globig drei warme Biere und nahm das verschriebene Medikament.
Kurz vor Mitternacht plagten ihn fürchterliche Albträume und er schwitze stark. Er traute sich aber nicht, seine Frau zu wecken und träumte, dass er wie ein Vogel über der nächtlichen Stadt schweben könnte.
Traum:
Hubert Globig erhob sich im ehelichen Bett, stand auf und ging zur Terrassentür.
Nach dem er durch die Tür getreten war, hatte er das Gefühl, leicht über dem Boden zu schweben. Als er die Arme ausbreitete und mit diesen anfing, Flugbewegungen zu machen, erhob er sich und konnte fliegen.
Zunächst schwebte er auf das Dach des Nachbarhauses und ruhte etwas aus.
Er schaute sich um und hatte das Gefühl, die Tiere zu verstehen. Nur konnte er nicht erkennen, um welche Tiere es sich handelte.
Hubert Globig glaubte, sich zu irren und erhob sich wieder, um weiter zu schweben.
Der Blick auf die nächtliche Stadt verwirrte ihn zunächst. Alsbald fand er alles sehr interessant.
Als er in der Ferne eine alte und verfallene Fabrik sah, entschloss er sich, diese anzufliegen.
Er sah dieses Gebäude zum ersten Mal, obwohl er fast vierzig Jahre in dieser, seiner Stadt, lebte und hier auch Briefträger war.
Je näher er kam, um so staunenerregend wurde es. Das Gebäude lag in einer Art Nebel und schien mit dem Boden nicht verbunden zu sein. Alles sah recht trostlos und verfallen aus. Manchmal glaubte er, ein verfallenes Schloss zu sehen. Andererseits war es aber auch ein typisches Fabrikgebäude.
Trotzdem hatte Hubert Globig den Eindruck, dass es eine Pförtnerloge gab.
Voller Neugier klopfte er an die Tür. Ein kleines Fenster öffnete sich und ein Pförtner sagte: Ach, da bist du endlich. Karlchen erwartet dich schon. Ich bringe dich zu ihm.
Hubert Globig verstand rein gar nichts und fragte, wer Karlchen sei.
Mit dem musst du über deine Erneuerung sprechen, sagte der Pförtner.
Beide schwebten, mehr als dass sie gingen, durch die alte Fabrik. Vor einer Tür verschwand der Pförtner plötzlich.
Hubert Globig, von Natur aus neugierig, entschloss sich, durch die Tür zu gehen, um zu sehen, was ihn dahinter erwartet.
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