Ja, aber nach unserer Zeitrechnung. Nach der Zeitrechnung der jetzigen Menschen sind das aber Jahrhunderte.
Nach dieser Äußerung des kleinen Männchens namens Karlchen erwachte Hubert Globig.
Er war wie gerädert, trug aber trotzdem die Zeitungen aus, so wie jeden Tag.
Zum Schluss kaufte er beim Bäcker frische Brötchen und ging nach Hause. Seine Frau hatte wie immer wunderbar riechenden Kaffee gemacht und beide frühstückten.
Danach legte Hubert Globig sich wieder ins Bett und holte den verpassten Schlaf nach.
„Vielleicht verträgst du das Medikament nicht“, sagte seine Frau und er winkte ab.
„Bestimmt ist die Zeitungstour zu kurz. Ich werde den ärztlichen Rat befolgen und am Nachmittag einen ausgiebigen Spaziergang unternehmen. Wenn du willst, kannst du ja mitkommen.“
„Das fehlte mir noch“, antwortete seine Ehefrau und sagte, dass sie dafür keine Zeit hätte.
Diese Antwort war für sie typisch. Hätte er gesagt, dass man am Nachmittag in das neue Kaufhaus gehen könnte, hätte sie alle Zeit der Welt gehabt. Aber bei einem normalen Spaziergang bestand die Gefahr, Leute zu treffen, mit denen man sich über intelligente Dinge oder die große Weltpolitik unterhalten konnte. Bei solchen Gelegenheiten musste sie zugeben, dass sie sich für nichts, außer für die täglichen Einkäufe, interessierte und nicht bereit oder in der Lage war, etwas Neues zu hinterfragen.
Er hingegen nahm alles Neue begierig auf und versuchte es zu verstehen.
Hubert Globig dachte den ganzen Nachmittag darüber nach, an was es liegen könnte, dass er solche Albträume hatte. Der Fabrikbesuch ging ihm nicht aus dem Sinn und er überlegte, was es mit der alten Fabrik, dem Pförtner und dem kleinen Karlchen auf sich haben könnte.
„Vielleicht sollte ich lieber, so wie früher, kaltes statt warmes Bier am Abend trinken. Aber die verschriebenen Pillen werde ich weiter nehmen. Einem Doktor muss man glauben. Was sollte denn sonst werden“, sagte er sich und nahm sich vor, wie früher vier Flaschen kaltes Bier vor dem Schlafengehen zu trinken.
Vor dem Einschlafen trieb ihn seine Neugierde um und er nahm sich für den Fall, dass er erneut einen solchen Albtraum haben sollte, vor, der Sache mit der Fabrik und deren Bewohner auf den Grund zu gehen.
Kaum war er eingeschlafen, wälzte er sich im Bett von der einen Seite auf die andere. Seine Ehefrau schlief bereits tief und fest.
Dann überkam ihn wieder ein Albtraum.
Traum:
Albträumend stand er auf, ging auf die Terrasse und schwebte - so wie in der vorhergegangenen Nacht - auf das Dach des Nachbarhauses.
Tierstimmen hörte er heute nicht. Er hatte es auch eilig zu der Fabrik zu kommen.
Er suchte den Horizont nach der Fabrik ab und als er sie entdeckt hatte, schwebte er auf dem direkten Wege dorthin.
Hallo Pförtner, ich glaube, du hast mich gestern in die falsche Abteilung geschickt.
Warum denn das?
Der Typ, zu dem du mich geschickt hast, meinte, dass ich bei ihm vielleicht falsch wäre.
Mach dir keinen Kopf, Karlchen stöhnt immer über zu viel Arbeit.
Ich hatte aber den Eindruck, dass er wirklich viel zu tun hat.
Bei uns läuft das so: Ich, beziehungsweise meine Abteilung, nimmt eine grobe Vorsortierung vor. Massenmörder zum Beispiel kommen gleich in die Kellerabteilung. Offensichtlich zu Recycelnde haben sich gleich im Vorzimmer des Unkladungs zu melden.
Wer ist denn Unkladung?
Der Weltenschöpfer und Chef des ganzen Universums.
Wie nennt ihr den?
Unkladung!
Nicht Gott oder so ähnlich?
Götter gibt es nicht und hat es nie gegeben. Das sind Erfindungen der unwissenden Menschen, also Menschen-Werk und -Wahnsinn.
Verstehe ich nicht, ich glaubte immer an Gott, sagte Hubert Globig.
Das macht nichts. In letzter Zeit, so ungefähr seit fünftausend Jahren, gibt es diesen Irrglauben. Die Gottähnlichen wollen, dass an sie geglaubt wird und dass Zweifel daran Sünde sei. Unkladung ist der Boss! Sonst keiner. Das musst du dir hier merken, um nicht sofort in die Kiste der Ungebildeten zu kommen, riet der Pförtner.
Habe ich verstanden, Pförtner.
So, hier gibt es neben der Kellerabteilung, für die ich im Grunde zuständig bin, und dem Unkladung noch drei Abteilungen. Karlchen steht der Abteilung I vor und sortiert nach weiterer grober Vorprüfung die Ankömmlinge in solche, die eventuell recycelt werden können und in solche, die nicht erneut verwendbar sind, aus.
Also war ich gestern in Abt. I, oder?, fragte Hubert Globig.
Ja. Und Karlchen, der faule Sack, lässt alles langsam anlaufen. Deshalb hat er auch die meisten Rückstände. Die Fälle, die er genauer prüft, sind schon vor viertausend Jahren gestorben.
Das kenne ich. Manche Sachbearbeiter bei der Post haben riesige Rückstände.
Hubert Globig, so ist es. Und weil niemand nach unten befördert werden kann, sondern immer nur nach oben, hakt es in der Abt. I gehörig.
Verstehe ich nicht, sagte Hubert Globig fragend.
Na, Karlchen ist als Abteilungsleiter schon oben und kann deshalb nicht mehr befördert werden.
Bei euch geht es zu wie bei der Post.
Umgekehrt! Bei der Post und in eurem öffentlichen Dienst geht es so zu, wie bei uns, gab der Pförtner zur Antwort.
Gut, aber was machen denn die beiden anderen Abteilungen, wollte Hubert Globig wissen.
Wenn Karlchen entschieden hat, schickt er sie zur endgültigen Überprüfung in Abt. II, das sind die, die recycelt werden können. Die anderen verfügt er in Abt. III.
Und was passiert mit denen, die Karlchen in Abt. III verweist?
Die werden nicht erneuert, haben aber noch ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Abteilungsleiters III.
Habe ich verstanden. Aber was ist die Kellerabteilung?
Ich glaube, ihr Menschen würdet Hölle dazu sagen.
Wie ist denn deine Kellerabteilung belegt?
Die ist immer überbelegt. Aber da alles dunkel ist und die Insassen nicht miteinander kommunizieren können, ist das nicht so problematisch, wie du vielleicht denkst. Alle dumpfen nur vor sich hin. Und wenn ich meine, dass der Keller - eure Hölle - überbelegt ist, öffne ich eine Bodenklappe und alle sind weg.
Wohin gehen die denn, wollte jetzt Hubert Globig wissen.
Weil sie ohne Materie sind, schwirren sie irgendwo im Weltall herum und keiner kümmert sich mehr um sie; sie sind weg, entsorgt.
Karlchen hat anklingen lassen, dass du als Pförtner oft die Leute danach beurteilen würdest, ob sie dir sympathisch sind oder nicht.
Typisch Karlchen. Vor einiger Zeit habe ich einmal versehentlich einen Papst zu ihm und nicht sofort in den Keller geschickt. Das hält er mir immer noch vor.
Hubert Globig musste offenbar laut im Schlafe gesprochen haben und wurde von seiner Frau heftig am Arm gerüttelt, bis er wach war.
„Warum weckst du mich mitten in der Nacht?“, fragte er vorwurfsvoll seine Ehefrau.
„Du hast wirres Zeug geredet. Das hat mir Angst gemacht.“
„Ich war nur beim Pförtner und habe mich erkundigt.“
„Von welchem Pförtner schwafelst du da?“
Er schwieg und sagte nur, dass sie das ohnehin nicht verstehen könnte und versuchte, wieder einzuschlafen.
Nach dem Nachmittagsspaziergang setzte sich Hubert Globig auf dem Marktplatz in ein Straßencafé, trank eine heiße Schokolade und beobachtete die Passanten.
Als er das Café gerade wieder verlassen wollte, setzte sich sein früherer Arbeitskollege und einziger Freund Otto zu ihm. Er hatte ein Achselhemd und Badehosen an, bestellte sich ein Bier und war mit sich und der Welt zufrieden.
„Wie läufst du denn herum?“, fragte Hubert Globig mit entsetztem Unterton.
„Was hast du denn an mir auszusetzen? Ich war mit meiner Marta gerade auf Malle“, antwortete Otto.
„Und warum hast du immer noch die Badehose und das Achselhemd an?“, wollte Hubert Globig wissen.
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