Alle Kellner waren angehalten, nach dem Kassieren von Westgeld dieses eins zu eins mit entsprechender Quittung bei Frau Markgraf umzutauschen. Die wenigsten Kellner hielten sich daran und tauschten nur zur Wahrung des Scheins geringe Beträge um.
Hilde Markgraf war die Ehefrau vom „großen Chef“ des Hotels.
Das Interhotel Magdeburg war das Banketthaus der DDR-Regierung. Es wurde von einem besonderen Genossen geleitet. Herr Markgraf war nicht unsympathisch. Aber er war kein Hotelkaufmann, sodass Herr Weser das Hotel managte.
Jeder wusste, dass Herr Markgraf ein hoher SED-Bonze und Stasimann war. Man hatte zwar große Angst, aber keinen Respekt, was auch für seine Ehefrau galt.
Nur mit dem Ausgeben des Westgeldes im hoteleigenen Intershop gab es für die Kellner Probleme. Frau Markgraf, die auch den Intershop verwaltete, akzeptierte beim Einkauf pro Kellner und Monat nur 10 DM.
Allein der Poppich machte wieder einmal eine Ausnahme. Als der Geburtstag seiner Mutter nahte, wollte er eine große Flasche 4711 kaufen. Die kostete aber über 15,- DM. Paul hatte zu allem Unglück nur einen 50-DM-Schein, den keiner der Kollegen wechseln konnte oder wollte. Da die Zeit drängte, ging er respektlos in den Intershop.
„Oh, haben sie eine neue Freundin?", fragte Frau Markgraf.
„Nein, nein! Meine Mutter hat Geburtstag und wünscht sich eine Flasche 4711“, antwortete er.
„So einen Sohn möchte ich auch haben.“
In diesem Moment ritt Paul der Teufel, und er setzte alles auf eine Karte. „Liebe Frau Markgraf, darf ich ihnen ebenfalls eine Flasche 4711 schenken?“
Es wurde so still, dass man die berühmte Stecknadel hätte fallen hören können. Frau Markgraf war blass geworden, und Paul wollte gerade etwas zur Entschuldigung stammeln, als Frau Markgraf sagte: „Lieber Poppich! Das finde ich wirklich nett von ihnen. Ich muss das alles verkaufen und darf beziehungsweise kann selbst nichts von all den schönen Dingen erwerben. Wenn sie mir ihr Ehrenwort geben, dass niemand etwas davon erfährt, insbesondere mein Mann nicht, nehme ich ihr Geschenk an. Mir ist bekannt, dass alle Kellner nicht korrekt das Westgeld deklarieren. Auch weiß ich, dass gerade sie viel Westgeld kassieren, weil sie immer zur Bedienung besonderer Gäste eingesetzt werden. Ich habe kein schlechtes Gewissen, diese Kleinigkeit von ihnen anzunehmen.“
Paul war für einen kurzen Moment sprachlos, fing sich aber schnell wieder und sagte:
„Liebe Frau Markgraf, sie haben mein Ehrenwort. Mein Vater war Soldat und hat mir mit auf den Weg gegeben, dass man sich lieber erschießen lässt, als sein Ehrenwort zu brechen.“
Er ließ allerdings unerwähnt, dass sein Vater als überzeugter Nazi das EK I hatte und bis zu seinem Tode im Jahre 1958 bei seiner politischen Überzeugung geblieben war.
Ab diesem denkwürdigen Tag konnte Paul in unbegrenzter Höhe im Intershop einkaufen. Er vergaß aber nie ein kleines Geschenk für Frau Markgraf. So wie er nie die Westpralinen für die Waschfrauen und eine Kleinigkeit für die Bedienung im Café vergaß.
Am folgenden Dienstag verspätete sich Paul um zehn Minuten. Als er ins Hotel kam, schien die Hölle los zu sein.
„Weser sucht sie, und keiner weiß, wo sie sind“, begrüßte ihn ein Kollege.
Mein Gott, wegen zehn Minuten Verspätung kann sich der alte Herr doch nicht so aufregen, dachte er und ging sofort ins Büro des Restaurantchefs.
„Wo stecken sie denn? Hier müssen sie unterschreiben“, sagte Herr Weser zu Paul.
„Was bitte muss ich unterschreiben?“
„Ihren Antrag für Bulgarien.“
„Ich habe doch noch gar keinen gestellt.“
„Eben deshalb. Heute läuft die Antragsfrist für das Jahr 1966 ab, und ihre Unterlagen müssen sofort nach Berlin. Frau Markgraf hat schon den ganzen schriftlichen Kram mit meiner und Herrn Markgraf`s Stellungnahme fertiggemacht. Er hat ihnen die politische Zuverlässigkeit und ich habe ihnen die fachliche Kompetenz bescheinigt."
Paul unterschrieb das Schriftstück, obwohl er in Gedanken gar nicht bei der Sache war.
„Das klappt schon, davon bin ich überzeugt. Aber hängen sie es nicht an die große Glocke. Das gibt unter ihren Kollegen nur böses Blut“, sagte der Restaurantchef und schickte ihn weg.
Die nächsten Tage verliefen wie gewöhnlich. Sobald Paul das Interhotel betrat, verließ er die graue Alltagswelt der DDR und tauchte in eine andere Welt ein.
Es gab unterschiedliche Gäste. Herr Weser platzierte sie entsprechend im Restaurant. Oft bekamen die „Dederongäste" keinen Platz und wurden in den Bierkeller geschickt.
Höhere Parteifunktionäre besetzten die Tische gleich hinter dem Eingang. Besondere Gäste und westliche Ausländer durften am anderen Ende des Restaurants Platz nehmen und wurden sogar noch gefragt, ob der Platz angenehm wäre.
Der Restaurantchef und Paul Thiele betätigten sich für die besonderen DDR-Gäste als „Fluchthelfer". Es war eine stille Absprache zwischen ihnen; beide verstanden sich ohne Worte. Sie verhalfen diesen besonderen Gästen für einen Abend zur Flucht aus dem grauen Alltag der DDR.
Wer als „Flüchtling“ in Betracht kam, entschied Herr Weser am Restauranteingang. Paul Thiele sorgte dafür, dass sich diese Gäste wie in einer anderen Welt fühlten.
Die Regeln der hohen Servierkunst waren nicht gefragt. In einem lockeren Gespräch empfahlen Herr Weser oder Paul einen Hauptgang, der nicht auf der Speisekarte stand, oder einen Wein, den keiner kannte. Allein den Namen des Weines und dessen Herkunft schilderten beide in einer Art, die die Gäste in höchste Verzückung versetzte. Über Preise wurde nicht gesprochen.
Ein in Weißwein und Kräutern der Provence gedünstetes Schweinelendchen und dazu ein weißer Burgunder klang ein bisschen wie Südfrankreich und versetzte die Gäste in stille Träumerei. Wenn Paul noch als Vorspeise einen Langustencocktail empfahl, hörte er von den Gästen nur noch ein genüssliches Luftholen, und sie bestellten, was empfohlen wurde.
Anders als üblich verstummten die Gespräche der Gäste nicht, wenn sich Herr Weser oder Poppich dem Tisch näherten.
Eine Ausnahme machte Herr Weser, wenn „ Madame Polska “ erschien. Warum diese Frau eine Ausnahmestellung einnahm, wusste keiner der Kellner. Es hieß nur, dass sie die Frau eines polnischen Diplomaten sei und der Restaurantchef nicht anders könne.
„ Madame Polska “ war Ende fünfzig, kleidete sich aber wie eine Fünfundzwanzigjährige. Allerdings war ihr Haar immer gepflegt und einwandfrei blond gefärbt.
Sie erschien stets in anderer männlicher Begleitung und sprach laut mit einem gespielten Lachen. Keiner der Kellner wollte sie freiwillig bedienen, weil sie stets an allem etwas auszusetzen hatte.
„Herr Ober, schauen sie einmal hier! Das geziemt sich aber nicht für ein Interhotel!“, war immer der erste Satz. Kein Teller war eben oder sauber genug.
Herr Weser musste stets einen Kellner mit den Worten, dass der Gast König sei, zwangsverpflichten, „ Madame Polska “ zu bedienen.
Der Restaurantchef begrüßte sie mit den immer gleichen Worten und Gesten.
„Madame, schön, dass sie uns wieder einmal die Ehre geben. Ich hoffe, ihnen geht es genauso gut, wie sie aussehen." Dabei gab er ihr formvollendet einen Handkuss und begleitete sie zu einem Tisch am Fenster.
Normalerweise schaute er im Lokal nach einem Kellner, den er herbeiwinkte, und dem er sagte, dass dieser heute die Ehre habe, die gnädige Frau zu bedienen.
Heute war es anders. Er sagte zu ihr, dass sie sofort bedient würde.
Als Herr Weser im Kellnergang erschien, waren alle Kellner verschwunden. Nur Paul ging gelassen seiner Arbeit nach, weil er nicht damit rechnete, dass der Restaurantchef ihn zur Bedienung der „ Madame Polska “ einteilen würde.
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