»Nein, davon kann ich ein Lied singen.«
Richard öffnet den Mund, um noch etwas zu sagen, doch ein lautes Knattern unterbricht ihn. Zeitgleich drehen wir die Köpfe.
Eine seltsame zweirädrige Maschine mit einem Griff und einem Sitz in der Mitte, auf dem ein unrasierter, dunkelblonder junger Mann sitzt, fährt ins Lager. Ich erschrecke so sehr, dass ich zusammenfahre. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich sehe glänzende Metallteile und zwei Reifen, die wie die eines Autos aussehen, aber ohne Gehäuse drum herum.
Richard bemerkt meine Unsicherheit. »Jamies Motorrad. Davor musst du keine Angst haben. Na, der kann was erleben!« Er springt vom Stuhl auf und geht auf das besagte Motorrad zu. Den Mann, der es gesteuert hat, schätze ich auf nicht älter als Cade, Anfang zwanzig. Er trägt fleckige und zerrissene Kleidung, ein graues Shirt und blaue derbe Hosen mit Nietenbesatz. Auch Cade hat sich erhoben, er lehnt jetzt stehend am Baumstamm und beobachtet den Neuankömmling mit zu Schlitzen verengten Augen. Ich geselle mich zu ihm. Dann kommen Elijah und Sarah von ihrem Wachtposten aus die Auffahrt hinauf gerannt, beide sehen verschwitzt aus.
»Jamie, du Idiot, wo warst du die ganze Zeit?«, blafft Elijah. »Du hast mich da unten fast über den Haufen gefahren!«
Inzwischen haben sich auch Susan, Zac und Shelly zu ihnen gestellt. Cade und ich bleiben etwas abseits, dennoch in Hörweite.
Jamie wischt sich mit dem Unterarm Schweiß von der Stirn. »Ich war in Manhattan.« Seine Stimme ist angenehm, aber er scheint außer Atem. Mir fährt ein Schauder über den Rücken. Aus irgendeinem Grund ist er mir unheimlich. Seine kleinen Augen blitzen gefährlich.
»Und was hast du dort verloren?« Richard bemüht sich, ihn nicht anzuschreien, das merkt man ihm deutlich an. Er verschränkt die Arme vor der Brust und presst die Zähne aufeinander. »Ich habe die ganze Nacht nach dir gesucht, weil ich dachte, die Mutanten hätten dich geholt!«
Jamie macht eine Geste, als wolle er Fliegen verscheuchen. »Keine Panik, mich bekommen die nicht. Bin bewaffnet bis an die Zähne. Zumindest war ich es, bis mir die Munition ausging. Ihr glaubt nicht, was in Manhattan los ist. Ausnahmezustand!«
»Dann lass mal hören, bin gespannt«, sagt Sarah. Ihr Mund ist verkniffen, zwischen ihre Augenbrauen hat sich eine Falte gegraben.
»Ich wollte unsere Kontaktmänner in der Stadt aufsuchen. Dachte, es könnte nicht schaden, mal wieder Neuigkeiten zu erfahren. Viele von unseren Leuten leben jedoch gar nicht mehr.« Er schnaubt.
Elijah macht einen Schritt auf Jamie zu und baut sich drohend vor ihm auf. »Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, Mann! Was ist passiert?«
Shelly drängt sich an Susan, die den Arm um das Mädchen legt und die Szene stumm beobachtet.
»Wer ist denn die Kleine?«, fragt Jamie.
»Eine der drei Personen, die vor der Mall von den V23ern angegriffen wurden. Sie bleiben vorerst bei uns«, sagt Sarah. »Lenk nicht vom Thema ab, sondern erzähl endlich, was Sache ist! Was meinst du damit: Unsere Kontaktmänner leben nicht mehr?«
»In der Stadt herrscht pures Chaos. Überall Leichen, Patrouillen, Schüsse und verzweifelte Ordnungshüter, die der Lage nicht mehr Herr werden.«
»Deshalb ist es seit gestern auch so ruhig hier. Hatte mich schon gewundert, weshalb die V23er aufgegeben haben, nach uns zu suchen«, bemerkt Elijah.
Jamie nickt, einmal und gewichtig. »Ich habe nicht viel herausbekommen, aber es scheint eine Art Seuche zu wüten. Überall in den Straßen treiben sich massenweise Menschen herum, die wie wilde Tiere auf ihre Nachbarn losgehen und sie durch bloße Berührung töten. Sie alle haben ein Mal auf dem Arm, ihre Augen glühen bedrohlich.«
»Acrai?« Richards Stimme klingt besorgt.
»Davon gehe ich aus. Aber keine gewöhnlichen, sondern welche, die völlig außer Kontrolle geraten sind. Sie tragen die Einheitsanzüge der Städter. Ich nehme an, sie waren einst normale Einwohner. Die Acrai haben sie auf irgendeine Art infiziert, weiß der Geier, wie. Vielleicht haben sie inzwischen selbst ein Serum entwickelt, dass Menschen in Acrai verwandeln kann.«
Neben mir ballt Cade die Fäuste. »Nein, kein Serum«, knurrt er durch seine zusammengepressten Zähne. Er spricht so leise, dass nur ich ihn hören kann. »Das klingt nach dem Werk eines Wandlers. Wandlerblut vermag Menschen in Acrai ohne Verstand zu verwandeln. Eine fragwürdige Art, sich zu vermehren, weshalb wir auch zu der klassischen Methode übergegangen sind. Allerdings ist es keine Seuche und nicht von Mensch zu Mensch übertragbar. Ein Wandler muss ganz bewusst viele von ihnen mit seinem Blut vergiftet haben.«
Mir fährt ein Schreck durch die Glieder. »Lucas?«
»Zuzutrauen wär's ihm.«
Mein Blut rauscht so laut in meinen Ohren, dass ich mich anstrengen muss, der Unterhaltung der anderen weiterhin zu folgen. Weshalb hat Cade mir nie erzählt, dass sein Blut zu solchen Grausamkeiten fähig ist? Herrje, ich habe ihn schon oft berührt, als er verletzt war. War ich in Gefahr? Die Erkenntnis erschüttert mich in meinen Grundfesten.
»Was machen wir jetzt?«, fragt Zac. »Ich will dieses Pack tot sehen! Allesamt!«
»Beruhige dich. Wir wissen doch noch gar nicht, ob die Acrai überhaupt etwas damit zu tun haben«, wirft Susan ein.
»Ich muss Jamie recht geben«, sagt Richard. »Es klingt mir alles sehr nach dem Rachefeldzug eines Wandlers. Lucas hat noch immer eine Rechnung mit mir zu begleichen, und die V23er hasst er ohnehin. Wir müssen damit rechnen, dass er dahinter steckt.«
Aha. Dann weiß Richard also auch um die Besonderheit von Wandlerblut. Lucas scheint ihm damals viel erzählt zu haben. Ich setze mich in Bewegung und gehe auf die Gruppe zu, Cade bleibt zurück. Jamie hebt den Blick und runzelt die Stirn.
»Ist das auch eine Neue?«
Richard legt den Arm um meine Schulter. »Das ist meine verlorene Tochter Holly.«
»Sag bloß.« Jamie grinst schief, und ich beschließe in diesem Moment, dass ich ihn nicht leiden kann. Elijah ist zwar auch ein raubeiniger Typ, aber bei ihm habe ich nicht den Eindruck, dass er ein schlechter Kerl ist. Bei Jamie bin ich mir nicht ganz so sicher.
»Wie dem auch sei, wir können unsere Leute nicht in Manhattan verrecken lassen«, greift Zac das Thema wieder auf. »Wir müssen sie herausholen.«
»Es leben Rebellen in der Stadt?«, frage ich in die Runde.
»Ja, unsere Kontaktpersonen«, sagt Zac. »Sie versorgen uns mit Neuigkeiten, ein reges Tauschgeschäft. Es sind eigentlich keine Rebellen, aber dennoch sind sie für uns zu Freunden geworden.«
»Ich schließe mich Zac an«, sagt Jamie und reckt entschlossen die Faust in die Höhe. »Ich lasse sie auch nicht dort. Das wäre absolut unmenschlich. Die V23er scheinen inzwischen eine Ausgangssperre für die Städter verhängt zu haben. Die wilden Biester schleichen wie Zombies durch die verlassenen Straßen.«
Zombies? Was ist das? Monster? Als mir der Gedanke an Carl in den Kopf schießt, knicken mir beinahe die Beine ein. Hoffentlich geht es ihm gut! »Ich habe auch noch Freunde dort. Ich will sie nicht im Stich lassen.«
Ich vernehme, wie Cade hinter mir entnervt aufseufzt. Ich drehe mich zu ihm um. »Niemand zwingt dich, mich zu begleiten«, rufe ich ihm säuerlich entgegen. Alle Blicke wenden sich ihm zu. Natürlich möchte ich nicht ohne ihn gehen, es würde mir das Herz brechen. Mit seiner Hilfe hätten wir eine größere Chance, Carl und die Freunde der Rebellen herauszuholen.
»Weshalb trägt er denn einen Anzug der Mutanten?!« Jamies Stimme überschlägt sich beinahe.
»Nur zur Tarnung«, knurrt Cade.
»Dann gebt ihm doch endlich mal etwas anderes zum Anziehen!«
»Halte ich für keine gute Idee«, wirft Richard ein. »Wenn wir nach Manhattan gehen, könnte uns seine Tarnung gute Dienste leisten. Du kommst doch mit, Cade, oder? Können wir auf dich zählen? Wir haben dein Leben gerettet, jetzt kannst du dich revanchieren.«
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