Ausnahmsweise hätte ich sogar dasselbe vorgeschlagen. Ich fühle mich wohler dabei, Holly in Sicherheit zu wissen. Sie hätte gar nicht hier sein sollen. Wer weiß, ob Lucas sich nicht noch immer in Manhattan herumtreibt, und von V23ern wimmelt es ohnehin. Unter keinen Umständen dürfen sie Holly in die Finger bekommen.
»Mein ehemaliger Wohnbezirk ist nicht weit von hier«, sagt sie. »Wir können bei Carl unterschlüpfen und ihm gleichzeitig Schutz gewähren. Er wohnt ganz allein in dem großen Haus. Ich bin mir sicher, er würde es bereitwillig mit uns teilen.«
»Mir wäre es fast schon lieber, wenn Holly, Shelly und ich das Weite suchen und Manhattan komplett verlassen würden«, werfe ich ein. »Wenn sie hier bleibt, werfen wir sie den Raubtieren zum Fraß vor.«
»Auf keinen Fall«, empört sich Holly. »Ich gehe nicht ohne Carl!«
»Kannst du nicht einmal vernünftig sein?« Sie zerrt an meinen Nerven. Ich hätte große Lust, sie einfach zu packen und gegen ihren Willen mitzunehmen.
»Wie weit ist es bis zu deinem Wohnhaus?« Richard bemüht sich sichtlich um einen ruhigen Ton. Meine Geduld ist definitiv fast am Ende. Offensichtlich spürt er das und möchte die Situation entschärfen.
»Nur zwei Querstraßen weiter. Ich wohnte in dem Haus mit der Aufschrift Hollister auf der Seite.«
Das kenne ich, einer der auffälligsten Gebäude, irgendwo zwischen den Stadtteilen Soho und Greenwich Village.
»Wir sind durch die halbe Stadt gerannt, da kommt es darauf auch nicht mehr an, oder?« Hollys Augen funkeln, sie verschränkt die Arme vor der Brust. Ihr Tonfall klingt empört und eine Oktave höher als normal.
»Schrei nicht so laut«, fahre ich sie harscher als beabsichtigt an.
»Lasst uns nach Carl suchen, ihn um Unterschlupf bitten und die Mädchen dort verstecken. Klingt mir nach einem besseren Plan als zurück zur Brücke zu laufen.« Richard stellt sich schützend zwischen Holly und mich. Was bildet er sich ein? Ich habe weitaus mehr für sie geopfert als er! Glaubt er, ich könnte ihr gefährlich werden?
Ich balle die Hände zu Fäusten und mache einen Schritt nach vorne. Elijah schiebt sich zwischen mich und Richard.
»Komm' mal wieder runter! Was bist du für ein Tyrann, dass du dich so über die Wünsche deiner Freundin hinwegsetzt? Davon abgesehen ist es wirklich ungefährlicher, wenn wir sie erst einmal in Sicherheit bringen.«
Freundin? Glaubt er etwa, Holly und ich ...? Hmm. Der Gedanke gefällt mir. Ich entspanne meine Fäuste und werfe allen noch einmal einen düsteren Blick zu, ehe ich mich geschlagen gebe und ihrem Vorschlag zustimme. Wahrscheinlich ist es tatsächlich erst einmal das Beste, in der Umgebung nach einem Versteck zu suchen.
Zac, Elijah, Sarah und Jamie erklären sich bereit, ihren ursprünglichen Plan, ihre Freunde Patricia und Steve zu finden, weiter zu verfolgen, während Richard und ich die Mädchen zu Hollys ehemaligen Wohnhaus bringen wollen. Ehe wir aufbrechen, entferne ich die verklemmte Patrone meiner CZ 75 und hoffe, dass mir das Teil keinen weiteren Ärger bereiten wird. Noch eine Ladehemmung in einer brenzligen Situation kann ich nicht gebrauchen.
Wir verlassen das Parkhaus, wünschen uns gegenseitig noch einmal viel Glück und laufen weiter im Eiltempo den Broadway herunter. Holly geht voran und zeigt uns den Weg. Sie hält Shellys Hand, die sich große Mühe gibt, mit ihr mitzuhalten. Ich laufe hinter Richard und gebe unserer Gruppe von hinten Deckung.
Ich werfe einen Blick zurück über meine Schulter. Wir sind noch keine fünfzig Yards weit gekommen, als drei V23er aus einer Seitenstraße, nur einen Häuserblock hinter uns, auf die Hauptstraße stoßen und sich in unsere Richtung bewegen.
»Scheiße!«
Richard dreht sich zu mir um und zieht die Augenbrauen hoch. Ich habe keine Zeit für lange Erklärungen, deshalb beschleunige ich meinen Lauf und ziehe mit Holly gleich, die ich kurzerhand in einen zerstörten Hauseingang schubse. Sie stößt einen Protestlaut aus.
»Los, rein da.« Sie gehorcht und bleibt still. Richard hat die Situation zum Glück sofort begriffen und stürzt seiner Tochter hinterher. Hoffentlich haben die Ordnungshüter sie noch nicht gesehen!
»Hey!«, ruft einer von ihnen von weiter hinten. Ich hatte keine Zeit mehr, mich zu verstecken. Sie haben mich bereits gesehen. Ich umklammere meine Pistole und bereite mich innerlich auf eine weitere Schießerei vor, doch keiner der V23er eröffnet das Feuer. Sie kommen im gemütlichen Trab auf mich zu.
Aus der Nähe bemerke ich, dass es sich um eine Frau und zwei Männer handelt. Sie bleiben unmittelbar vor mir stehen. An ihren Gürteln baumeln Pistolenhalfter, aber sie machen keine Anstalten, ihre Waffen zu ziehen.
»Zu welcher Einheit gehören Sie, 87-3?«
Ich benötige einen Sekundenbruchteil, um die Situation zu begreifen. Natürlich - ich trage noch immer den gestohlenen Anzug mit der aufgestickten Individuennummer.
»Ich bin allein unterwegs.«
Einer der Männer, ein etwa fünfundzwanzigjähriger Typ mit einem spitznasigen Mausgesicht, zieht die Augenbrauen hoch. »Das ist zu gefährlich. Kommen Sie mit uns, wir säubern den Bereich zwischen dem achtzehnten und zwanzigsten Bezirk.«
Er sagt es, als sei es eine Selbstverständlichkeit. Keine weiteren Nachfragen, kein Misstrauen, keine Einwände seitens der anderen. Na toll. Ich werde unter keinen Umständen mit diesen Idioten gehen. Ein flüchtiger Seitenblick in die Nische, in der Shelly, Richard und Holly sich verstecken, verrät mir, dass sie sich ruhig und still verhalten.
Gerade spiele ich mit dem Gedanken, meine Pistole zu ziehen und die drei unliebsamen Störenfriede einfach zu erschießen, als noch mehr von ihnen aus einer Seitenstraße zu uns stoßen. Es sind fünf. Großartig. Sie halten ihre Waffen schussbereit vor den Körper. Gibt es hier irgendwo ein Nest? Mit dreien wäre ich fertig geworden, aber acht kann ich nicht erschießen, ohne das Magazin zu wechseln, denn ich habe nur noch fünf Schuss übrig. Dieser Umstand würde mit großer Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass mein wunderschöner Körper von einem der übrig gebliebenen Schützen durchlöchert werden würde wie ein Käse, sollte ich es trotzdem versuchen, denn auch die Reaktionsfähigkeit eines V23ers sollte man nicht unterschätzen.
Die Gruppe rennt auf uns zu. Drei Frauen, zwei Männer. In ihren schwarzen Anzügen sehen sie aus wie Ameisen, und irgendwie passt der Vergleich. Sie arbeiten unermüdlich für ihr Oberhaupt, das in seinem Nest hockt und sich über seine fleißigen Arbeiter amüsiert, die für das System ihr Leben geben würden. Bedauernswert.
»Zwei Straßen nördlich von hier liegen drei frische Leichen von Einwohnern«, bringt eine streng gescheitelte blonde Frau hervor, deren Individuennummer 14-5 lautet. Sie scheint außer Atem zu sein. »Die Bestien, die sie überfallen haben, sind noch in der Nähe. Wir benötigen Verstärkung. Sie sind schnell und unberechenbar.«
»Offenbar hält man sich im zwanzigsten Bezirk nicht an die Ausgangssperre«, fügt eine andere Dame ebenso tonlos wie die erste hinzu.
Die drei V23er, die mich angesprochen haben, nicken nur stumm, stellen aber keine Fragen. Das Mausgesicht wendet mir noch einmal den Blick zu. »Kommen Sie mit.«
Die Gruppe setzt sich in Bewegung und ich sehe mich vorerst gezwungen, ihnen zu folgen, wenn ich mein Leben nicht schneller verlieren möchte, als mir lieb ist. Ich sehe noch einmal in den Hauseingang, aber dort rührt sich noch immer nichts. Ich bin mir sicher, Holly und die anderen haben mitbekommen, was sich zwischen mir und den Mutanten abgespielt hat. Sie werden verstehen, dass ich noch ein paar Minuten benötigen werde, mich von der Gruppe abzusetzen. Ich hoffe, dass sie hier auf mich warten werden, aber sicher kann ich mir nicht sein. Verdammt! Ich möchte Holly nicht allein weitergehen lassen. Zum Glück ist ihr Vater noch bei ihr, obwohl ich bezweifle, dass er die beiden Mädchen ganz allein verteidigen könnte, sollte es zu einem weiteren Zwischenfall kommen.
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