Ich laufe der Gruppe hinterher und versuche, mich ein wenig zurückfallen zu lassen. Doch wenn ich geglaubt habe, unbemerkt entkommen zu können, habe ich mich leider getäuscht. Immer wieder dreht sich einer von ihnen zu mir um und ermahnt mich streng, schneller zu laufen.
Wir biegen in die Thompson Street im Stadtteil Soho ein. Schon von weitem sehe ich die drei Leichen der Städter, von denen der Mutant gesprochen hatte. Daneben liegen allerdings noch zwei, bei denen ich mir ziemlich sicher bin, dass es sich um Zombie-Acrai handelt. Die glühenden Augen des einen blicken weit geöffnet nach oben ins Leere. In seiner Brust befindet sich ein Einschuss, am Straßenrand sehe ich Patronenhülsen.
»Jemand ist hier gewesen!«, ruft einer der V23er von weiter vorne. Er hat kaum ausgesprochen, als ein Schuss fällt. Ein gurgelnder Schrei ertönt neben mir, eine der Frauen geht in die Knie. Wieder ein Schuss, diesmal kann ich seinen Ursprung lokalisieren. Ich reiße den Kopf in den Nacken. In einem der ausgehöhlten Fenster ohne Scheibe im zweiten Stock eines verfallenen Bürogebäudes sehe ich den Kopf von Jamie auftauchen. Er richtet die Pistole auf unsere Gruppe und feuert drei weitere Schüsse ab, einer hat ganz klar mir gegolten, doch ich bin im letzten Moment zur Seite gesprungen.
»Hey!«, brülle ich. »Nicht auf mich, du Idiot!« Ich trage zwar einen schwarzen Anzug, halte Jamie aber dennoch für intelligent genug, den Unterschied zu bemerken, zumal er nicht blindlings nach unten feuerte, sondern sich die Zeit genommen hat, auf mich zu zielen.
Das Gegenfeuer wird eröffnet, doch die Patronen der V23er prallen am Fensterbrett ab oder bleiben im Putz der Fassade stecken. Ich nutze das allgemeine Chaos, um das Mausgesicht mit einem kräftigen Schlag meines Pistolengriffs auf den Hinterkopf zur Strecke zu bringen. Natürlich bleibt die Aktion nicht unbemerkt. Einer der Mutanten beobachtet mich dabei. Erst reagiert er nur mit einem entgeisterten Gesichtsaudruck, dann zielt er mit seiner Waffe auf mich. Er schießt, trifft mich jedoch nicht, weil ich als Acrai einfach schneller bin als er. Mein Blick irrt wieder nach oben. Ich sehe direkt in die Augen von Jamie, doch seine Miene bleibt ungerührt. Er muss definitiv gesehen haben, dass meine Drehung nicht menschlicher Natur gewesen sein konnte. Toll. Ich habe mich verraten. Jetzt könnte ich beinahe verstehen, wenn er mit voller Absicht auf mich zielt.
In diesem Moment erscheinen die Geschwister Elijah und Sarah im Hauseingang der Ruine. Mit ein paar gezielten Schüssen schalten sie den Rest der V23er aus. Sie sind sehr gute Schützen, zumindest mit Sarahs Schießkünsten durfte ich vor der Sunset Mall schon Bekanntschaft machen. Binnen weniger Sekunden wird es still in der schmalen Gasse, die Schüsse und Schreie verhallen. Zu den fünf Leichen der Einwohner sind noch acht der V23er hinzugekommen. Das waren definitiv keine ausgebildeten Ordnungshüter gewesen. Kein Verlust auf der Gegenseite, eine magere Bilanz für die Mutanten. Vermutlich haben sie aus der Not heraus unausgebildete Arbeiter mit Waffen ausgestattet und nach Manhattan geschickt, um der Lage Herr zu werden. Na das ging ja wohl gründlich daneben. Ein wenig Schadenfreude halte ich für angemessen.
Elijah sieht mich mit kaltem Blick an. »Was machst du bei denen, Mann? Solltest du nicht auf die Mädchen aufpassen? Oder hast du die Seiten gewechselt?«
»Sie haben mich für einen von ihnen gehalten. Hätte ich den Anzug nicht getragen, hätten sie mich vielleicht überwältigt. Allein gegen acht erschien es mir mit einem Fünfermagazin ein wenig riskant.« Wenn ich geahnt hätte, wie schlecht sie zielen, hätte ich es vielleicht sogar versucht. »Richard und die Mädchen kommen zurecht, ich konnte sie in ein Versteck stoßen, ehe die V23er sie entdeckt haben. Glaube mir, ich wäre lieber bei ihnen geblieben.« Mein Blick zuckt wieder nach oben zum zweiten Stock, aber Jamies Kopf ist aus der Fensteröffnung verschwunden. »Und was macht ihr hier? Wolltet ihr nicht eure Freunde finden?«
»Wir haben Patricia und Steve in ihrem Wohnhaus nicht angetroffen«, sagt Sarah. »Zudem ist Zac verletzt, er wurde angeschossen. Er ist oben bei Jamie. Wenn er transportfähig ist, bringen wir ihn zu Hollys altem Wohnhaus. Es hat überhaupt keinen Sinn, weiter nach unseren Kontaktpersonen zu suchen. Die meisten haben sich irgendwo verschanzt, völlig verängstigt. In einer so riesigen Stadt gleicht es einer Suche nach der Nadel im Heuhaufen.«
Ich nicke. »Kommt ihr allein zurecht?«
»Ja, keine Sorge.«
»Dann werde ich jetzt zurückgehen und nachsehen, ob Richard und die Mädchen schon bei Carl angekommen sind. Findet ihr den Weg dorthin?«
»Sicher«, sagt Elijah. »Ist nicht weit von hier, das Gebäude kenne ich. Mach dir um uns keine Gedanken.«
»Dann sehen wir uns dort.«
Sarah und Elijah nicken und verschwinden wieder im Hauseingang. Ich mache mich auf den Weg zurück zu der Stelle, an der ich Holly und die anderen zurückgelassen habe, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass sie dort geblieben sind. Ich kenne Holly zu gut. Sie wird Druck gemacht haben, schnell einen sicheren Hafen zu erreichen.
Holly
Völlig unvermittelt schubst Cade mich an der Schulter zur Seite. Shelly, die meine linke Hand hält, wird mitgerissen. Ich stoße einen kurzen Schrei aus. Gemeinsam stolpern wir in einen dunklen Hauseingang, bemüht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Was ist denn bloß in ihn gefahren? Hat er den Verstand verloren? Weshalb ist er so grob zu mir?
Ich möchte gerade den Mund öffnen, um mich lauthals über Cades Verhalten zu beschweren, als Richard hinter uns in die schattige Nische hechtet und mir eine Hand auf den Mund presst.
»Psst, seid beide ganz still, okay?« Er nimmt seine Hand wieder herunter. Ich bin noch immer empört, sage jedoch nichts. Richard schiebt Shelly und mich tiefer in den Schatten. Es riecht nach Schimmel und Feuchtigkeit. Die alte hölzerne Haustür, gegen die wir uns nun drängen, ist verrottet und fleckig.
Ich höre Schritte, dann eine männliche Stimme. »Zu welcher Einheit gehören Sie, 87-3?«
Mir rutscht das Herz in die Hose. Diese monotone gefühllose Stimme weckt schlimme Erinnerungen. Sind dort etwa Oberste bei Cade?!
»Ich bin allein unterwegs.« Das ist Cades Stimme. Seinem gepressten Tonfall entnehme ich, dass er alles andere als entspannt ist. Was geht dort draußen vor sich? 87-3? Dann fällt mir ein, dass Cade noch immer den gestohlenen Anzug trägt. Hoffentlich erkennen sie ihn nicht.
Ich höre wieder Schritte, mehrere Personen nähern sich. Von meinem Standort aus kann ich jedoch nichts erkennen. Meine Hände schwitzen, auch Shellys Finger sind kalt, sie zittert an meiner Seite. Vielleicht ist es tatsächlich eine dumme Idee gewesen, überhaupt hierher gekommen zu sein. Ich fühle mich für Shelly verantwortlich, ich könnte es nicht ertragen, wenn die Obersten uns erneut gefangen nähmen.
»Zwei Straßen nördlich von hier liegen drei frische Leichen von Einwohnern«, sagt eine fremde Frau. »Die Bestien, die sie überfallen haben, sind noch in der Nähe. Wir benötigen Verstärkung. Sie sind schnell und unberechenbar.«
»Offenbar hält man sich im zwanzigsten Bezirk nicht an die Ausgangssperre«, sagt eine andere Frau, ebenso tonlos wie die erste.
»Kommen Sie mit.« Das ist wieder der Mann, der Cade zuerst angesprochen hat. Zwei Sekunden lang höre ich gar nichts, dann sehe ich, wie eine größere Gruppe Menschen an unserem Versteck vorbei rennt, Cade ganz hinten. Er wirft noch einmal einen Blick zurück zu uns, dann verhallen die Schritte auf der Straße.
»Wer war das?«, fragt Shelly im Flüsterton. Noch immer bewegen wir uns keinen Zoll weit aus der Nische heraus.
»Das waren V23er«, antwortet Richard. Er wendet sich an mich. »Ist dein Freund vertrauenswürdig? Oder wechselt er die Seiten? Ich habe schlechte Erfahrungen mit Verrätern gemacht.«
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