»Komm erst einmal herein«, sage ich. Ich ziehe Cade am Ärmel ins Haus, er lässt es widerstandslos geschehen. Als sich die Tür hinter ihm schließt, atme ich erleichtert auf.
»Wir haben gedacht, du seiest tot«, meldet sich Shelly zu Wort, die sich inzwischen wieder zwei Schritte entfernt hat. Ich hingegen umarme Cade erneut.
»Ich habe solche Angst gehabt.«
Cade knurrt. »Ja, ich auch. Ich bin tatsächlich in eine Schießerei geraten und wäre gerne schon früher zu euch zurückgekehrt, aber das war leider nicht möglich. Ich hatte nur noch fünf Patronen im Magazin. Als ich euch im Hauseingang nicht gefunden habe, hab ich auch einen ganz schönen Schrecken bekommen.«
»Was ist denn da unten los? Wer ist gekommen?«, ruft Carl vom oberen Treppenabsatz. »Wer ist das? Ein Freund von dir?«
Ich sehe zu ihm hinauf. »Ja, er gehört zu uns. Es sind jetzt noch fünf unserer Freunde in den Straßen unterwegs. Wir hoffen, dass sie auch bald zurückkehren.«
»Und sie wollen alle in mein Haus?!« Carl zieht die Augenbrauen hoch. »Das ist doch hier kein Flüchtlingslager.«
»Carl, wohin sollen wir denn sonst? Das Haus ist groß und du lebst hier allein. Außerdem haben wir nicht vor, ewig zu bleiben. Ich wollte dich herausholen aus Manhattan.«
Carl macht eine wegwerfende Handbewegung. »Ist ja schon gut. Das ist ohnehin ein Ausnahmezustand in den letzten Tagen.« Er seufzt und wendet sich ab.
Shelly, Cade und ich gehen die Treppe wieder hinauf und betreten den Gemeinschaftraum. Die Begrüßung zwischen Richard und ihm fällt weniger herzlich, eher frostig aus. Es tut mir im Herzen weh. Ich möchte nicht, dass mein Vater Cade misstraut, obwohl ich es verstehen kann.
Cade berichtet kurz von der Schießerei und dem Zusammentreffen mit den anderen Rebellen. Zac sei verletzt, aber man wolle sich alsbald auf den Weg hierher machen. Bislang hätten sie keine Verluste zu beklagen, allerdings habe man Patricia und Steve nicht finden können.
»Also ein ziemlich unsinniger Ausflug nach Manhattan«, bemerkt Richard trocken. »Wir hätten nicht herkommen sollen.«
»Unsinnig war er mit Sicherheit nicht.« Mein Tonfall ist schärfer als beabsichtigt. »Ich habe Carl gefunden, sind meine Freunde etwa nichts wert?«
Richard schnaubt, lehnt sich im Stuhl zurück und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Kannst du mir mal verraten, was so Dramatisches vorgefallen ist, dass du so schlecht auf Carl zu sprechen bist?«
Richard wirft Carl einen giftigen Blick zu. »Hast du ihr etwa nie verraten, auf wessen Seite du wirklich stehst? Ich kann kaum glauben, dass jemand wie du meine Tochter aufgezogen hat. Und auch jetzt traue ich dir noch nicht über den Weg.«
»Was stimmt denn nicht mit Carl?«, wirft Shelly ein.
Carl verdreht die Augen. »Können wir uns nicht einfach zusammenreißen? Wir sitzen doch alle in einem Boot.«
»Ach ja, tun wir das?« Richards Augen sprühen Funken in Carls Richtung. »Na los, erzähl meiner Tochter, was los ist. Ich kenne dein Geheimnis ohnehin, früher oder später würde sie es von mir erfahren.«
Carl sieht plötzlich gar nicht mehr wütend aus, eher traurig und verletzt. Es bricht mir das Herz, wenn Richard auf dem alten Mann herumhackt. Cade sitzt bewegungslos neben mir, lediglich sein Blick wandert im Raum umher. Seiner Miene ist überhaupt nicht zu entnehmen, was er denkt. Vermutlich amüsiert er sich über unsere kindischen Probleme.
»Es ist nicht so, dass du der einzige bist, der ein Recht darauf hat, wütend auf den anderen zu sein«, bringt Carl mit ruhiger Stimme hervor. Er lässt sich von Richard nicht provozieren.
»Nicht? Was habe ich denn verbrochen?«
»Du hast mich im Stich gelassen, hast dich abgesetzt und mir die Erziehung deiner Tochter überlassen.«
»Wie bitte?!« Richards Stimme überschlägt sich. »Ich habe all die Jahre nicht einmal gewusst, dass Holly noch lebt! Denkst du etwa, ich hätte mich aus dem Staub gemacht und sie abgeschoben, weil ich mich mit Eva vergnügen wollte?«
»So in etwa. Du hast doch schon immer nur an dich gedacht und dich mit diesem Acrai angefreundet, damit er dich und Eva aus der Stadt bringt. Als das Kind da war, war es dir lästig.«
Ich stutze. Carl weiß von den Acrai? Carl hat die ganze Zeit gewusst, wer mein Vater ist? Allmählich habe ich das Gefühl, mein ganzes Leben verschlafen zu haben. Ich komme mir vor wie eine dumme Unbeteiligte, dabei geht es offensichtlich auch um mich.
»Nur aus Verzweiflung habe ich mit Lucas Geschäfte gemacht! Kannst du das nicht verstehen? Ich wollte Eva in Sicherheit bringen, weil sie bei den V23ern nicht bleiben konnte. Sie hatte kein Mal, war außerdem schwanger. Was hätte ich denn tun sollen?«
»Und das gibt dir das Recht, ohne eine Wort des Abschieds in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einfach zu verschwinden? Ich dachte, wir wären befreundet gewesen.«
Richard ballt die Hände zu Fäusten, entspannt sie jedoch gleich wieder. »Du bist ein Verräter der V23er. Du hast mit ihnen gemeinsame Sache gemacht, willst du das leugnen? Du hast mich verraten, Carl, du hast versucht, unsere Flucht zu vereiteln.«
Carl wird blass. Ich habe ebenfalls das Gefühl, dass mein Blutdruck bedenklich abfällt. Was erzählt Richard denn da? Träume ich? Das kann doch nicht die Realität sein.
»Ich habe mich schon vor langer Zeit von den Obersten distanziert«, sagt Carl kraftlos. »Als sie mir Holly brachten, habe ich kein Interesse mehr daran gehegt, sie an diese Mutanten auszuliefern. Dieses kleine Würmchen, kaum ein paar Wochen alt. Ich habe dich nicht verraten, Richard. Im Gegenteil. Ich kann mich noch genau an die Nacht erinnern, als die V23er Holly in meine Obhut übergaben, wie sie sie in der medizinischen Station in meine Arme gelegt haben. Sie haben diesem Winzling Blut abgenommen, weil sie wissen wollten, ob Holly genauso besonders ist wie Eva. Sie wussten schon damals um das Undying Blood , die Forschung steckte allerdings noch in den Kinderschuhen. Eva war die erste, die mit diesem Merkmal geboren wurde und sie hat das Versteckspiel in der Zentrale lange unbemerkt mitgemacht. Nur, um deine Tochter zu schützen, habe ich die Blutproben vertauscht. Ich habe Kopf und Kragen für sie riskiert, dabei habe ich eine unbändige Wut gegen dich entwickelt. Man erzählte mir, du hättest das Kind absichtlich ausgesetzt.«
Richard schlägt mit der flachen Hand auf die Tischplatte, Shelly und ich zucken zusammen. »Das war eine Lüge!«
»Heute bin ich gewillt, es dir zu glauben. Jedenfalls habe ich Holly sechzehn Jahre lang wie alle anderen Einwohner der Stadt aufwachsen gesehen. Ich war froh, dass die V23er das Interesse an ihr verloren hatten. Bis zum Tag ihrer Erstuntersuchung ...«
Carl wusste also um das Undying Blood ? Ich kann es noch immer nicht fassen. Nie habe ich auch nur geahnt, was wirklich vorgefallen ist. Meine Kinnlade klappt herunter. Carl bemerkt meine Fassungslosigkeit und lächelt mich gequält an.
»Ich wollte es von dir fern halten, Holly. Deshalb habe ich dir nie von Richard erzählt. Ich wollte nicht, dass du mit dem Schmerz leben musstest, verstoßen worden zu sein. Den Obersten hatte ich längst abgeschworen. Ich war einst einer ihrer Informanten gewesen, aber das ist eine Ewigkeit her. Als du zur Erstuntersuchung gerufen wurdest, ist eine Welt für mich zusammen gebrochen. Noch einmal konnte ich die Blutproben nicht vertauschen, wie auch? Ich war ja nicht dabei. Du bist wie eine Tochter für mich, ich wollte dich nicht an sie verlieren. Ich weiß doch, was wirklich los ist in der Zentrale und dass es nicht das Paradies ist, das sie euch glauben lassen. Dann kam der Brief, in dem stand, was ich befürchtet hatte: Du wurdest rekrutiert. Ich habe Suzie dazu ermutigt, deine Individuenkarte zu stehlen und an deiner Stelle zu gehen. Ich fühle mich schrecklich deswegen, weil ich dein Leben mit ihrem erkauft habe.« Tränen lösen sich aus Carls Augenwinkel. Inzwischen haben sich auch Richards Gesichtszüge sichtlich entspannt. Er sieht nun eher betroffen als wütend auf die Tischplatte hinab.
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