»Wo warst du nur so lange? Wo ist Jamie?«
»Ich habe ihn nicht gefunden. Ich nehme an, er ist nach Manhattan gefahren. Sein Motorrad parkt nahe der Williamsburg Bridge. Mir war es allerdings zu heikel, ihm zu folgen. In der Gegend wimmelte es von Patrouillen. Er soll sich warm anziehen, wenn er zurückkommen sollte. So etwas Riskantes zu wagen! Ich frage mich, was er dort wollte.«
»Williamsburg Bridge? Gibt es dort etwa auch einen Durchlass durch die Barriere?«, frage ich.
Richard wendet sich mir zu und sieht mich einen Augenblick lang verstört an, dann lächelt er, als würde er sich erst jetzt wieder an mich erinnern. Er legt mir eine Hand auf die Schulter.
»Ja, es gibt unterhalb der Brücke einen Riss in der Barriere, man muss allerdings darunter her klettern und kann nicht mir dem Auto durchfahren. Es ist riskant, weil man leicht abrutschen und in die Fluten stürzen kann. Wir wagen es nur, wenn es nötig ist.« Er wendet sich an Sarah. »Hat Jamie dir nach dem Angriff nicht gesagt, wohin er geht?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein, und ich hatte in diesem Moment ernsthaft andere Sorgen, als mich um den Neuling zu kümmern. Ich bin froh, dass ich überlebt habe.«
Richard nickt. »Ist noch etwas zu essen da?«
»Ja, in den Vorratskisten müsste noch etwas sein. Ich hole es dir.« Susan wendet sich ab und steuert auf die Kisten abseits der Feuerstelle zu. Elijah und Sarah erheben sich beinahe zeitgleich von ihren Stühlen.
»Wir gehen dann mal wieder auf unseren Posten«, knurrt Elijah. »Irgendjemand muss die Zufahrt von der Hauptstraße schließlich bewachen. Mir ist fast das Herz stehen geblieben, als ich den schwarzen Schlitten herauf fahren sah. Hab einen Augenblick gebraucht, um mich daran zu erinnern, dass wir jetzt auch so eine Mutantenkarre besitzen.«
»Haben wir noch Munition?«, fragt Sarah während sie ihre Pistole aus dem Gürtel zieht.
Zac nickt. »Ja, in der Tasche im Kofferraum des Mitsubishi ist noch genug Munition für deine Knarre.«
Sarah und Elijah verlassen die Gruppe. Ich setze mich auf einen der frei gewordenen Stühle und lasse meinen Blick zu Cade herüber schweifen. Mit einer Geste bedeute ich ihm, sich neben mich zu setzen, aber er schüttelt bloß den Kopf und blickt dabei finster.
»Ist nicht besonders gesprächig dein Freund, was?«, fragt Zac mit einem Grinsen.
In Ermangelung einer Antwort zucke ich nur die Achseln. Ich spüre, wie mir heißes Blut in die Wangen steigt. Cade mausert sich schon jetzt zum Außenseiter, und das gefällt mir überhaupt nicht. Er sollte sich ein wenig dankbarer zeigen.
Shelly steht auf und beginnt, das Geschirr abzuräumen und es zur Wasserstelle zu tragen. Ich bin stolz auf sie, dass sie sich bereits so gut in die Gruppe integriert hat. Ich wünsche ihr von ganzem Herzen, dass sie wieder glücklich werden und lachen kann.
Richard lässt sich neben mich auf den Stuhl fallen, den ich zuvor Cade angeboten hatte. Er reibt sich über das Gesicht. Dann sieht er mich an und lächelt. Ich merke ihm deutlich an, dass er sehr müde ist.
»Möchtest du nicht etwas schlafen?«, frage ich, aber Richard schüttelt nur den Kopf.
»Schlimm genug, dass ich gestern Abend so übereilt das Camp verlassen musste, wo wir uns doch noch gar nicht richtig kennen. Es hat mir im Herzen weh getan und ich habe gehofft, dass du es mir verzeihen wirst. Aber ich habe mir Sorgen um Jamie gemacht, das musst du verstehen.«
»Natürlich.«
Einen Augenblick lang breitet sich Schweigen zwischen uns aus. Ich fühle mich befangen, weil ich nicht weiß, wie ich reagieren soll. Er ist mein Vater, aber dennoch ein fremder Mann. Alles kommt mir unwirklich vor, als würde ich träumen. Hatten mich gestern Nacht noch so viele Fragen geplagt, wollen sie mir nun nicht über die Lippen kommen.
Richard nimmt es mir ab, zuerst das Wort zu ergreifen. »Du möchtest sicher wissen, wo ich all die Jahre gewesen bin und was aus deiner Mutter geworden ist, oder? Ich kann immer noch nicht glauben, dass du überlebt hast und wieder da bist. Es muss Schicksal sein.« Seine Mundwinkel zittern, als müsste er sich beherrschen, nicht in Tränen auszubrechen. Mir ergeht es ähnlich. Zac scheint zu spüren, dass dies ein sehr inniger Moment zwischen meinem Vater und mir ist, deshalb erhebt er sich lautlos von seinem Stuhl und entfernt sich von uns. Richard und ich sind nun allein, lediglich beobachtet von Cade, der zwar den Kopf auf seine Knie gelegt hat, als würde er schlafen, doch ich sehe durch den schwarzen Vorhang seiner Haare deutlich die orangebraunen Augen in meine Richtung blicken.
»Ja, ich würde es gerne wissen«, bringe ich mit erstickter Stimme hervor. »Aber wenn du zu müde bist, musst du es mir nicht sofort erzählen.«
»Ach was. Schlafen kann ich noch, wenn ich tot bin. Nichts ist mir wichtiger als meine Tochter.«
Mein Herz schlägt in einem schnellen Rhythmus gegen meine Rippen, aber ausnahmsweise nicht aus Angst, sondern aus purer Freude. Wann habe ich zuletzt so etwas gespürt?
Richard atmet einmal tief ein und sieht in die Ferne. Sein Blick ist der eines Mannes, der in Erinnerungen schwelgt.
»Es ist eine lange Geschichte. Wir haben mehr als sechzehn Jahre verloren. Jahre, die nie wiederkehren. Ich habe dich nicht aufwachsen sehen, und das schmerzt mich am meisten. Wenn ich nur geahnt hätte, dass du lebst, hätte ich dich längst zu mir geholt. Du warst mir die ganze Zeit so nah. In den letzten Jahren bin ich öfters in Manhattan gewesen. Wer weiß, vielleicht sind wir uns über den Weg gelaufen, ohne uns erkannt zu haben? Mir wird ganz heiß bei der Vorstellung.« Wieder atmet er schwer. Eine Träne löst sich aus seinem Augenwinkel. Irgendwie passt es nicht zu ihm. Sein Gesicht ist kantig, seine Wangen bedecken Bartstoppeln. Eine Narbe zieht sich über seine Schläfe. Er sieht aus wie ein Mann, der viel erlebt und den das Leben hart gemacht hat.
»Deine Mutter Eva war etwas Besonderes. Ich habe sie schon geliebt, als mir noch kein einziges Barthaar gewachsen ist.« Er lächelt wehmütig. Mir fällt auf, dass er meinen Blick meidet, als könnte er nicht ertragen, mir in die Augen zu sehen.
»Wir haben wie alle anderen in Manhattan gelebt«, fährt er fort. »Wir stammten beide aus Bezirk 31, sie lebte nur einen Häuserblock weiter. Schon früh haben wir uns ineinander verliebt. Wir wussten von Anfang an, dass wir zusammen gehörten, haben jede freie Minute miteinander verbracht. Bis zu jenem Tag, der alles ändern sollte: der Tag unserer Erstuntersuchung im Alter von sechzehn. Eva wurde rekrutiert, ich nicht. Sie wollte nicht gehen, aber sie haben sie mir aus den Händen gerissen.« Seine Stimme bricht, er macht eine Pause, in der er sich sammelt. Ich sage nichts, denn auch ich kann meiner Stimme nicht mehr trauen. Tränen tropfen auf die Tischplatte. Die Geschichte erinnert mich schmerzlich an meine eigene.
»Einige Wochen vergingen ohne ein Lebenszeichen von ihr. Ich habe gedacht, ich müsse sterben. Nie zuvor in meinem Leben habe ich größeren Schmerz erfahren. Fast zwei Monate später kehrte sie zurück, weil sie eine Arbeitsstelle im Wäschereibetrieb zugewiesen bekommen hat. Jeden Samstag hat sie die Kisten mit der Schmutzwäsche von den Bewohnern entgegen genommen und in LKWs geladen. Endlich haben wir uns wiedergesehen. Natürlich hatte ich Angst, dass sie sich verändert haben könnte. Die anderen Rekruten haben fortan nie wieder ein Wort mit den Einwohnern gesprochen, aber Eva war anders. Sie war noch immer die alte. Heulend hat sie sich in meine Arme geworfen und mir von ihrem Leid erzählt. Sie würden den Rekruten ein Serum spritzen, dass sie zu gefühlskalten Robotern werden lässt, hat sie erzählt. Aber bei ihr hat es keine Wirkung gezeigt.« Jetzt sieht Richard mich doch an und streicht mir über den Oberarm. »Ich nehme an, du hast ähnliche Erfahrungen gemacht?«
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