»Weshalb hast du mich nicht mitgenommen?«
»Weil du sehr erschöpft warst und noch geschlafen hast. Ich wollte dich nicht wecken. Außerdem ist es ein sehr weiter Weg gewesen.«
Shelly nimmt die Arme herunter und entlässt mich aus ihrem stürmischen Klammergriff. »Susan war sehr nett zu mir. Sie hat mir gezeigt, wo ich mich waschen kann. Mir gefällt es hier. Können wir für immer bleiben?«
Ich höre, wie Cade hinter mir geräuschvoll die Luft durch die Zähne einsaugt. Er wird nicht bleiben wollen, und ich kann ihn verstehen. So lange die anderen im Camp ihn für einen Menschen halten, besteht keine Gefahr für ihn. Irgendwann wird ihnen jedoch auffallen, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Als Susan mir heute morgen ein frisches blaues T-Shirt angeboten hat, weil es ein warmer Tag werden würde, habe ich es bereitwillig entgegen genommen, Cade hat jedoch abgelehnt, sich umzuziehen. Er trägt noch immer den schwarzen Anzug der Obersten. Ich weiß, dass er ihn verabscheut, aber er will sein schwarzes Mal am Arm nicht preisgeben. Ich mache mir eine gedankliche Notiz, nach einem Kleidungsstück mit langen Ärmeln für ihn zu suchen. Die Rebellengruppe besitzt viele Kleidungsstücke, das meiste davon aus den Lagern der Sunset Mall.
Ich streiche über Shellys kurzen blonden Haarschopf. »Lass uns noch nicht darüber reden, ob wir bleiben oder nicht. Wir sind doch gerade erst angekommen.«
Shelly nickt. Fürs erste scheint ihr die Antwort zu genügen.
Wir gehen hinab in die Senke zu den Zelten. Davor liegen abgehackte dicke Baumstämme als Sitzgelegenheit. Ich finde es beinahe gemütlich. Susan nimmt mir den Korb mit den Beeren ab und verspricht, sich schnell um die Zubereitung des Frühstücks zu kümmern. Elijah und die fremde Frau sitzen auf einem der Baumstämme und sprechen angeregt miteinander.
»Wohin ist Jamie gegangen?«, fragt Elijah. »Richard ist noch immer nicht zurück, er sucht ihn überall.«
»Was weiß ich, bin ich sein Kindermädchen? Wir können von Glück reden, dass wir unverletzt aus der Schießerei heraus gekommen sind.«
Als ich mich nähere, sieht sie mich an. Als würde sie unsere Anwesenheit erst jetzt zur Kenntnis nehmen, hebt sie fragend die Augenbrauen.
»Das sind Cade, Holly und Shelly. Drei Neuankömmlinge.« So, wie Elijah es sagt, klingt es nicht gerade begeistert. »Und das ist meine Schwester Sarah. Sie hat euch gestern vom Dach der Mall aus den Hintern gerettet.«
Ich setze mich auf einen Baumstamm den anderen beiden gegenüber, Shelly lässt sich neben mich darauf fallen. Cade bleibt in einigem Abstand hinter uns stehen. »Ich danke euch, dass ihr uns geholfen habt.«
Sarah macht eine wegwerfende Handbewegung. »Papperlapapp. Jamie und ich waren auf dem Weg zur Mall, als wir das Mutantenpack bemerkt haben. Wir lassen keine Gelegenheit aus, sie zu töten, sollten sie so dumm sein, uns vor die Flinte zu laufen.«
Sarah macht auf mich einen nicht weniger frostigen und abgehärteten Eindruck als Elijah. Kaum zu leugnen, dass sie Geschwister sind.
Mein Herz beginnt, schneller zu schlagen, als ich meinen Mut zusammen nehme, um ihr eine Frage zu stellen, die mir schon die ganze Nacht durch den Kopf geht. »Habt ihr alle Obersten vor der Mall getötet?«
Der Gedanke, sie könnten Neal erwischt haben, trifft mich härter als ich dachte, obwohl mein Verstand mir sagt, dass ich endlich von ihm ablassen und ihn vergessen muss.
»Nein, nur drei. Leider. Die anderen sind mit ihrer Karre geflohen. Tun sie dir etwa leid?«
Ich schüttle den Kopf und schlucke den Kloß hinunter, der sich in meinem Hals bildet.
»Wo ist mein Vater?« Es fühlt sich seltsam an, das Wort auszusprechen. Ich habe es sechzehn Jahre lang zu niemandem gesagt und auch jetzt ist es mir noch sehr fremd. Ich kenne ihn erst seit gestern. Ich kann es noch immer nicht so recht glauben.
»Er wird bald zurückkommen, mach dir keine Sorgen«, knurrt Elijah. »Er streunert häufig durch die Gegend, ist ein harter Hund. Mach dir um ihn keine Sorgen. Ich könnte bloß Jamie den Kopf abreißen, dass er ständig verschwindet und wieder auftaucht, als sei nichts gewesen. Richard wird ihm die Ohren lang ziehen, wenn er ihn findet.«
In diesem Moment gesellt sich Susan zu uns. Sie legt Shelly und mir je eine Hand auf die Schulter. »Wollt ihr mir helfen, das Essen zu machen?« Mir entgeht nicht, dass sie Elijah einen strengen Blick zuwirft.
Shelly ist sofort begeistert von der Idee. Ich werfe Cade einen Blick über die Schulter zu. Er steht dort mit finsterer Miene und mit vor der Brust verschränkten Armen, nickt mir jedoch zu, als würde er mir die Erlaubnis erteilen.
***
Susan ist eine sehr nette Frau, die ich gut leiden kann. Zac ist relativ still, wenngleich nicht unfreundlich. Er hat bislang nicht viel gesprochen, sondern an den beiden Autos der Rebellen herumgeschraubt. Susan sagt, er sei sehr hilfsbereit und zuvorkommend, aber das Leben habe ihn zu einem verbitterten Mann gemacht. Er hat eine Frau und einen Sohn an skrupellose Entführer verloren, die Menschen stehlen und sie töten, weil sie sich von ihnen ernähren. Susan hat bewusst das Wort Acrai vermieden, aber ich weiß, dass sie von ihnen gesprochen hat. Als ich ihr erzähle, dass ich selbst schon einmal von Acrai gefangen genommen wurde, sieht sie mich ungläubig an.
»Du scheinst ja schon eine Menge durchgemacht zu haben.«
Ich zucke nur die Achseln und dränge die Tränen zurück, die mir bei dem Gedanken an meine Vergangenheit in die Augen zu steigen drohen.
Susan sagt, Zac habe bittere Rache geschworen, von allen Rebellen im Camp ist er derjenige, der die Acrai noch lieber tot sehen würde als die V23er. Ich schlucke trocken und wende mich wieder den Beeren zu, die ich in einem Zinkeimer mit klarem Wasser wasche. Ein Seitenblick zu Shelly, die gerade Wurzeln mit einem Messer schält (man merkt deutlich, dass sie mehr Erfahrung als freier Mensch hat als ich), verrät mir, dass ihr derselbe Gedanke durch den Kopf geht wie mir: Cade darf unter keinen Umständen auffliegen. Shellys Wangen röten sich, sie wendet den Blick ab und legt die Stirn in Falten, aber sie bleibt stumm. Ich bin ihr unendlich dankbar dafür, dabei hat sie durch die Acrai ebenfalls eine Familie verloren. Ich hätte es ihr wahrscheinlich nicht einmal übel genommen, wenn sie Cade verraten hätte.
Susan erzählt mir auch etwas über die anderen Mitglieder des Camps. Sie haben alle keine Familie mehr und gewähren sich gegenseitig Schutz in einer Welt, in der man allein kaum überleben könne. Es erinnert mich ein wenig an meine ehemalige Kommune in Manhattan - wir waren auch alle Waisen ohne Familie gewesen. Elijah und seine Schwester Sarah seien die einzigen, die zumindest noch ein einziges Familienmitglied haben. Die beiden seien vor etwa zwei Jahren zu der Gruppe dazugestoßen, als sie in der Sunset Mall auf Richard stießen, der damals noch in seinem Versteck im Lüftungsschacht gelebt hat. Jamie, den ich bislang noch nicht kennengelernt habe, sei ein Eigenbrötler und ein Sturkopf, sagt Susan. Er sei noch jung, gerade zweiundzwanzig, und ein guter Schütze. Er sei noch neu in der Gruppe, seit nicht einmal einem Monat dabei. Doch er engagiere sich bereitwillig für das Gemeinwohl. Wie Susan in die Gruppe gekommen sei, fragt Shelly. Susan seufzt und berichtet, dass sie und Richard zu den ältesten Mitgliedern gehören, die einzigen, die von der ursprünglichen Gruppe noch übrig seien. Richard habe sie vor vielen Jahren allein in einer verfallenen Wohnung gefunden. Sie habe beschlossen, mit ihm zu gehen und ins Camp zu ziehen. Wenn Susan von Richard erzählt, nehmen ihre Wangen einen zarten Rotton an. Ich habe den Eindruck, dass sie mehr für ihn empfindet als Freundschaft. Ein leichter Anflug von Ärger streift mich, für den ich mich gleich darauf schäme. Meine Mutter ist offensichtlich seit langem tot oder verschollen. Ich kann nicht verlangen, dass mein Vater allein bleibt. Außerdem kenne ich ihn kaum, ich darf mir nicht anmaßen, über ihn zu urteilen.
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