Seufzend packt Julian die Sachen, bis auf den Umhang wieder in die Kiste zurück. Dann schreckte ihn ein Klopfen an der Türe auf.
»Meister Julian es wird Zeit. Die Sonne ist schon untergegangen und die Leute warten ungeduldig auf Euch. Sie wollen Eure Geschichten hören.«
Julian klappte den Deckel zu und rief zur Tür hin. »Komm rein Junge, ich bin gleich so weit.«
In der Tür erschien ein Junge von vielleicht sechzehn Jahren mit einer Laterne in der Hand. Er hielt die Lampe hoch über den Kopf, um die Dunkelheit im Haus besser ausleuchten zu können. Als er den Raum betrat, sah er sich nach Julian um.
»Gleich bin ich so weit Gerwin,« sagte Julian von der Truhe her.
Er verschloss die Truhe und erhob sich von seinem Hocker, streifte seinen alten löchrigen Umhang ab und warf sich den aus der Truhe über.
»Gerwin mein Junge, das Fest hat gerade erst begonnen. Meine Zuhörer laufen sicher nicht weg, weil ich mich ein bisschen verspäte.«
Ein Lächeln huschte über Gerwins Jungengesicht.
Gerwin hatte den Mann sofort ins Herz geschlossen, als der ihn bei sich aufnahm. Er klopfte vor über einem halben Jahr völlig abgerissen und zerlumpt an Julians Tür. Halb verhungert, in schmutzige verschlissene Kleidung gehüllt, bettelte er um ein Stück Brot.
Julian gab dem hohlwangigen, abgemagerten Jungen mit dem krausen blonden Kopfhaar zu essen. Während dieser sein Essen heißhungrig in sich hinein schaufelte, fragte ihn Julian über das woher und wohin aus.
Wie sich herausstellte, kam Gerwin aus Baud, einer Stadt, die zehn Tagesreisen im Süden lag. Er war vor den Schlägen und Misshandlungen seines Stiefvaters geflohen.
»Lieber sterbe ich, als noch einmal zu diesem Sadisten zurückzugehen,« hatte ihm Gerwin beteuert und so nahm Julian den Jungen in sein Haus auf. Überall erzählte er den Dorfbewohnern, die es hören wollten, dass Gerwin von einer weit entfernten Verwandten stamme. Da der Junge keinen anderen Verwandten habe, kümmere er sich jetzt um Gerwin.
Seither sorgte sich Gerwin um das Haus, hielt es sauber und half Julian, wo er nur konnte.
»Dann lassen wir sie nicht länger warten,« sagte Julian mit leiser Erregung in der Stimme. Er nahm seinen Stab auf und folgte Gerwin, der mit der Laterne vorausging. Inzwischen war es dunkle Nacht geworden. Der Lärm des Festes drang bis zu ihnen herauf, als sie die kleine Anhöhe hinab ins Dorf gingen.
Begleitet von begeisterten und anfeuernden Zurufen, trafen Julian und Gerwin auf dem Dorfplatz ein. Zurufe wie, „Julian setze Dich zu uns“ oder „welche Geschichte wirst Du heute zum Besten geben“, begrüßten die Leute ihn.
Levin der Dorfvorsteher kam auf sie zu und führte Julian zu seinem Platz am Tisch der Dorfältesten. Kaum hatte er an dem reichlich gedeckten Tisch Platz genommen, als sich die Dorfjugend vor dem Tisch versammelte. Mit Händeklatschen und aufmunternden Rufen forderten sie Julian auf, eine seiner zahlreichen Geschichten von sich zu geben.
»Langsam Kinder,« rief ihnen Julian belustigt zu. »Gönnt einem alten Mann den Genuss eines saftigen Bratens und er wird euch mit einer unterhaltsamen Geschichte belohnen. Ich erzähle euch eine Geschichte, die sich vor langer Zeit zugetragen hat. In ihr spielen Einhörner Zwerge Trolle Mantikore und Harpyien mit, aber auch Menschen. Sie ist etwas traurig, ein bisschen lustig, und lehrreich zugleich.«
Erwartungsvolle Spannung auf die kommende Erzählung legte sich über den Dorfplatz. Die jüngeren Kinder setzten sich in einem Halbkreis vor seinem Tisch. Geduldig warteten sie ab, bis Julian seinen Braten fertig gegessen hatte. Endlich war es dann so weit. Julian wischte sich den Mund mit einem Tuch ab, wobei sein Blick durch die Runde ging.
»Seid Ihr nun bereit meine Geschichte zu hören,« fragte er laut, sodass es auch jeder verstand.
Begeisterte Zustimmung schlug dem Alten entgegen und alle Bewohner forderten ihn durch den einstimmigen Zuruf, „Ja wir sind bereit“ auf, mit der Erzählung zu beginnen.
Julian erhob sich und wanderte wie jedes Mal, wenn er eine Geschichte zum Besten gab, durch die Reihen seiner Zuhörer. So bemühte er sich, seinen Erzählungen, durch Gebärden und Bewegungen noch mehr Leben einzuhauchen.
»Vor langer, langer Zeit nicht weit von Elveen entfernt ……,«
begann Julian seine Geschichte mit klarer fester Stimme zu erzählen. Seine Hand machte eine ausladende Bewegung in Richtung der Hügel, ehe er weiter sprach, »trug sich Folgendes zu …………
Gebannt hingen die Zuhörer an den Lippen des alten Mannes. Sie tauchten in ihrer Fantasie in die Geschichte ein, die Julian nun zum Besten gab.
Riana
Andoran
Das donnernde Grollen der Hufe ließ die Erde erzittern und in einer Staubwolke tauchte eine Herde Einhörner auf, die im rasenden Galopp über den Hügel hinwegfegte. Die Herde hielt auf eine bewaldete Erhebung zu, die ihnen Schutz vor ihren Verfolgern versprach. Abgekämpft und erschöpft lief Riana, eine junge Stute neben ihrer Mutter Servina her.
Servina machte sich Sorgen um ihre Tochter und die Gefährten der Herde, denn lange konnten sie dieses Tempo nicht mehr halten. Ihre Tochter und die anderen brauchten unbedingt eine Ruhepause, sonst würden sie alle vor Erschöpfung zusammenbrechen.
Servinas Lungen brannten bei jedem Atemzug, den sie tat, und sie konnte sich vorstellen, was ihre Tochter durchmachte bei dem mörderischen Tempo, das sie seit fast zwei Tagen hielten. Servina geriet ins Straucheln, fing sich jedoch sofort wieder. Die Wunde, die ihr einer der Hunde bei dem Überfall beibrachte, schmerzte, beeinträchtigte und schwächte sie.
An jenem Nachmittag vor zwei Tagen schlichen sich finstere Kreaturen unbemerkt von ihnen an die friedlich grasende Herde heran und fielen mit ihren furchterregenden Hunden über sie her. Nur mit Glück gelang es der Herde von Servina geführt, diesem Überfall zu entgehen.
Die kleinen bärtigen, in schwarzes Leder gekleideten Kreaturen gaben aber nicht auf und verfolgten sie unerbittlich. Es grenzte an Magie, dass sie der Herde überhaupt folgen konnten. Ihre pockennarbigen Gesichter zu Fratzen verzerrt jagten sie die Herde, bis an den Rand der Erschöpfung. Einmal gelang es den Kreaturen nahe genug an die Herde heranzukommen, dass Servina ihren abstoßenden Gestank den sie verbreiteten wahrnehmen konnte. Sie rochen nach Verwesung, Leder und Fäulnis.
Den meisten Schrecken unter der Herde verbreiteten die Hunde, welche die Kreaturen bei ihrer Jagd mit sich führten. Sie waren groß wie ein neugeborenes Fohlen und aus ihrem Maul, das mit einem furchterregenden Gebiss ausgestattet war, rann der Geifer über ihre Schnauzen.
Das erstaunliche Tempo, welches die Hunde bei der Verfolgung der Herde halten konnten, hinderte die Jäger nicht im Geringsten. Spielend liefen sie mit ihren zu kurz geratenen Beinen hinter den Hunden her, ohne das geringste Zeichen der Erschöpfung zu zeigen.
Die bewaldete Erhöhung tauchte vor ihnen auf und Servina verringerte ihre Geschwindigkeit, um ihre Herde vorbeizulassen. Mit argwöhnischen Blicken beobachtete sie die wellige Landschaft, um nach den Verfolgern Ausschau zu halten. Nur wenige Büsche und Bäume wuchsen in der weiten Savanne, die hinter ihr lag und so hatte sie einen freien Blick um die Verfolger rechtzeitig zu erspähen.
Erst als Servina sich sicher war, dass keine der Kreaturen zu sehen war, tauchte sie in den lichten Wald ein und suchte nach ihrer Tochter.
Servina lebte mit der Herde in einer parallelen Welt, die sie vor den Nachstellungen der anderen Bewohner Andorans schützte. Es gab nur einen der wusste, wie man das magische Tor in ihre Welt öffnete. „Kisho“
* Machte er seine Drohung war? * Servina durchlief ein Zittern, das nicht von der Erschöpfung der tagelangen Flucht herrührte, sondern von dem eisigen Schauer hervorgerufen wurde, der ihr Herz zu lähmen drohte. Kisho einst selbst Mitglied der Herde wurde ausgeschlossen und vertrieben, nachdem er die abscheulichste Tat begangen hatte, die ein Einhorn tun konnte. Er tötete einen gleichaltrigen Hengst, der ihn wegen seines rabenschwarzen Fells gehänselt hatte. Daraufhin versammelte sich die Herde und beschloss einstimmig Kishos Verbannung.
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