Auf mich allein gestellt schlage ich mich durch den Vorort Trinquetaille und gelange schon bald auf eine einsame Landstraße, die durch die flache Mündungsebene der Rhône führt. Bei klarem Himmel und frühlingshaften Temperaturen rauscht der Mistral unablässig über die landwirtschaftlich genutzten Flächen, die sich bis an den Horizont hin ausdehnen. Auf den Viehweiden käuen – unbeeindruckt von dem stürmischen Wetter – schwarze Camargue-Rinder mit ihren ausladenden Hörnern, während auf den Pferdekoppeln unmittelbar daneben weiße Camargue-Pferde ungestüm wiehern. In den Wassergräben entlang der Landstraße wachsen bis zu 4 Meter hohe Schilfpflanzen, die sich im Takt der Mistralböen raschelnd zur Seite beugen. Der Mistral fegt auch über die wenigen verstreut liegende Wohnhäuser hinweg, die mit pastellgelbem Anstrich und den blauen Fensterläden zarte Farbtupfer in der kargen Mündungsebene der Rhône setzen. Auf den Reisfeldern am Wegesrand stehen noch die verdorrten Reisbüschel des letzten Jahres. Nach einem angenehmen Marsch durch das Mündungsdelta überquere ich die Brücke über die Petite Rhône und gelange dadurch zum ersten Mal auf das Gebiet der Region Languedoc-Roussillon. Das heutige Etappenziel, die Kleinstadt Saint Gilles du Gard, befindet sich bereits in Sichtweite. Auf dem Hügel, in der Nähe der Petite Rhône, ist bereits der Glockenturm der Abteikirche Saint Gilles zu erkennen, der, Ainmitten von ineinander geballten Häusern in abgestuften Beige- und Brauntönen, emporragt.
Am späten Nachmittag, der Mistral hat mittlerweile nachgelassen, dafür ist die Hitze unerträglich, trudele ich ziemlich ermüdet auf dem Vorplatz der romanischen Abteikirche des ehemaligen Benediktiner-Klosters ein. An dem Maison des Pélerins, das unmittelbar am Platz liegt, lehne ich mich erst erleichtert an die Hauswand und lasse den lästigen Rucksack auf den Boden plumpsen. Die heutige Etappe durch das flache Mündungsdelta der Rhône ist – zumindestens für einen ungeübten Wanderer wie mich – doch ziemlich anspruchsvoll gewesen. Die Füße brennen bereits seit einigen Stunden in den Wanderschuhen, vielleicht haben sich sogar die ersten Blasen an der Ferse gebildet. Und die Schulterblätter schmerzen genau an den Stellen, auf denen das Gewicht des Rucksacks den ganzen Tag über gelastet hat. Einen leichten Sonnenbrand habe ich mir, glaube ich, auch zugezogen. Denn durch den frostigen Mistralwind ist mir überhaupt nicht aufgefallen, dass ich während der gesamten Etappe der intensiven Sonnenstrahlung des Midi ausgesetzt war. Nach einer Verschnaufpause betrete ich das Maison des Pélerins und treffe im Inneren auf den Herbergsvater, einen älteren Herren mit grauen Haaren, der mich herzlich begrüßt: „Bonjour! Bienvenue, cher pélerin!“ Wir plaudern kurz miteinander, dann lege ich ihm das Créanciale, den Pilgerpass, vor: „Pouvez-vous tamponner ce document, s'il vous plaît?“ Der Herbergsvater, gutmütig lächelnd, holt den Stempel heraus, presst ihn in das Stempelkissen, nimmt beim Créanciale genau Maß und drückt ihn kurz darauf fest in das Créanciale. „Merci bien!“ Mein erster Stempel auf der Via Tolosana! Aufmerksam begutachte ich den Stempelabdruck, bevor ich den Pilgerpass trocken wedele und anschließend wieder vorsichtig im Rucksack verstaue.
Wenige Stunden später, leicht erholt von der ersten Etappe auf dem GR 653, öffne ich zur Feier des Tages eine Flasche Wein aus der Region. Ein guter Tropfen! Bei einem Glas lasse ich die ersten Eindrücke der Via Tolosana, das prächtige Amphitheater in Arles, die vom Mistral aufgepeitschte Gischt der Rhône, die wehenden Mähnen der Camargue-Pferde, aber auch die brennenden Füße bei meiner Ankunft in Saint Gilles du Gard, noch einmal Revue passieren.
Kapitel 2
2. Saint Gilles du Gard – Vauvert: Zwischen Weinreben und Kirschbäumen
Am späten Vormittag breche ich vom Maison des Pélérins zur zweiten Tagesetappe auf. Bedächtig laufe ich die Rue de la République hinab durch das mittelalterliche Stadttor von Saint Gilles du Gard. Bei strahlend blauem Himmel und angenehmen Temperaturen gelange ich schon bald auf den Sentier de Cougourlier, der mich durch blühende Apfel-, Pfirsich- und Aprikosenplantagen und manche noch kahle Weinfelder führt. In sämtlichen Obstplantagen und Weinfeldern haben die Landwirte mittlerweile Wasserrohre im Erdboden verbuddelt. Auf diese Weise ist jeder einzelne Obstbaum, jede einzelne Weinrebe im Wurzelbereich mit einem Wasseranschluss ausgestattet und wird bei Bedarf gezielt mit Wasser versorgt. Auf einer kleinen Weide nebenan hüpfen Lämmer blökend um ihre frierenden Mutterschafe. Der Schafzüchter lässt sich kurz bei der Schafschur stören und versichert mir, dass ich mich weiterhin auf der Via Tolosana in Richtung Vauvert befinde. Beruhigt setze ich meinen Weg auf dem Sentier de Cougourlier fort. Auf beiden Seiten des Weges breiten sich nun unzählige, geordnete Reihen von frühlingshaft kahlen Weinreben aus. Beinahe könnte man meinen, die Weinplantagen würden sich bis zum Horizont erstrecken, derart gründlich haben die Winzer das flache Mündungsdelta der Rhône für den Weinanbau genutzt. Inmitten dieser ausgedehnten Anbaugebiete erheben sich die palastartigen Weingüter der Winzer. Plakative Schilder am Rande der Straße laden interessierte Weinkenner zur Verkostung in den Weinkellern ein. In glühender Mittagshitze stoße ich auf den Canal du Rhône-Languedoc, einen breiten Wasserkanal aus Beton, durch den unablässig – fast geräuschlos – beträchtliche Wassermengen strömen. Damit wird sicherlich der gewaltige Wasserbedarf der Landwirtschaft für die Bewässerung der Reisfelder, der Obstplantagen und der Weinfelder gedeckt. Beim Anblick des Wasserkanals muss ich unwillkürlich an den römischen Pont du Gard denken, der – nur wenige Kilometer entfernt – zusammen mit seinen Aquädukten über mehrere Jahrhunderte die Wasserversorgung der Stadt Nîmes absicherte. Auf drei Etagen mit einer Gesamthöhe von 49 Metern überquert der Pont du Gard bis heute das Flusstal des Gardon. Auf der obersten Ebene flossen täglich etwa 20.000 m³ Quellwasser durch eine Röhre aus wasserundurchlässigem Beton in Richtung Nîmes. Zusätzlich dichteten die Bauingenieure die Betonröhre mit einer rötlichen Paste aus Wein, gelöschtem Kalk und Fett ab, um etwaige Leckagen des Aquäduktes auszuschließen. Auf der Gesamtstrecke von 50 km haben die Bauingenieure dabei – mit Blick auf die Vermessungstechnik – eine wirklich staunenswerte Leistung vollbracht, denn das durchschnittliche Gefälle des Aquäduktes betrug lediglich 24 cm auf einem Kilometer Wasserleitung. Eine ingenieurstechnische Meisterleistung! In Gedanken versunken marschiere ich noch mehrere Kilometer an dem schnurgeraden Wasserkanal aus Beton entlang, ehe mir eine rot-weiße Markierung signalisiert, dass ich den Canal du Rhône-Languedoc auf einer Brücke überqueren muss. Auf der anderen Kanalseite gelange ich in leicht hügeliges Terrain mit zahlreichen Apfel-, Pfirsich- und Kirschplantagen, die bereits in voller Blüte stehen. In den Bäumen brummen Bienen, Hummeln und andere Insekten von Blüte zu Blüte, um an dem schmackhaften Nektar zu saugen. In den kahlen Weinstöcken nebenan sind wohl noch einige Winzer mit Schnittarbeiten zu Gange, denn auf dem Feldweg stapelt sich bereits das aufgeschichtete Schnittholz zum Abtransport. Während ich mich, bei prallem Sonnenschein, den nächsten Anstieg hinauf quäle, verfluche ich meinen Rucksack, der allem Anschein nach enorm an Gewicht zugelegt hat. Von der Viehweide nebenan glotzen mich dabei Rinder mit großen Augen unverblümt an. Auf einer anderen Weide dürfen sich unterdessen glückliche Schweine grunzend in Schlammlöchern suhlen. Der zähe Anstieg zieht sich gewaltig in die Länge. Erst am späten Nachmittag erreiche ich endlich den Hügelrücken, von dem ein Hohlweg in einen verwunschenen Eichenwald führt. Nach der fast unerträglichen Hitze beim Aufstieg genieße ich den angenehm kühlen Schatten, den die breit ausladenden, knorrigen Eichen spenden. Auf dem Hohlweg geht es abwärts in ein idyllisches Tal, dann steigt der Weg wieder an, bis ich, vom Waldrand aus, in einiger Entfernung – endlich – den Ortsrand von Vauvert ausmachen kann. Gegen Einbruch der Dämmerung erreiche ich schließlich den heutigen Etappenort.
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